1872, Briefe 183–286
206. An Friedrich Ritschl in Leipzig
Basel 6 April 1872
Verehrtester Herr Geheimerath,
ich entsende heute vier bisherige Schüler und Zuhörer nach Leipzig und möchte ihnen etwas mit auf den Weg geben, das sie in Ihre Nähe führte: damit sie später, gereift in Ihrer Zucht und durch Ihren Zuspruch angespornt, als tüchtige „alte Studenten“ nach Basel zurückkehren. Denn daran muß mir vor Allem liegen, daß unsere hiesige philologische Unterweisung sich nicht gar zu ausschließlich an Studenten der ersten Semester zu wenden hat; ein Sommersemester mit voraussichtlich wenigen Studenten, wie das nächste, ist in so fern mir werthvoller, als manches reichere, weil ich weiß, daß inzwischen die tüchtigen Basler anderwärts — und zwar bei Ihnen — reifen und weiser werden.
Beachten Sie doch, verehrter Herr Geheimrath, diese Vier. Da ist Herr Von der Mühl, der Bruder Ihres Leipziger Privatdozenten, ein zuverlässiger und bewährter Student, der zuletzt Senior unseres Seminars war. Dann Hr. Achermann, früher katholischer Theolog in Luzern, ein denkender Kopf und strenger Charakter, dann Hr. Hotz, lernbegierig und gute Hoffnungen erweckend, endlich Hr. Boos, mit Neigung für Bücher und Polyhistorie und vielleicht an der Bibliothek zu verwenden. Möchte damit diese kleine Schaar Ihnen empfohlen sein.
Indem ich diesen Brief schreibe und mich auf das Datum besinne, fällt mir ein, daß es gerade Ihr Geburtstag sein muß, an dem ich mich brieflich an Sie wende. Dies Zusammentreffen bin ich geneigt, als ein günstiges Omen für meine Basler auszulegen: welche demnach vor Ihnen als eine nachträgliche achtbeinige leibhafte Gratulation erscheinen mögen, um Sie auch an den entfernten und doch sich nahe wissenden Schüler und Anhänger zu erinnern, — der Pfingsten nicht nach Leipzig kommen wird und vielleicht erst im Herbst wieder Sie persönlich begrüßen kann.
Für den schönen und ausführlichen Brief, den Sie mir über mein Buch geschrieben haben, bin ich Ihnen rechten Dank schuldig, um so mehr als ich ihn im Grunde durch ungebärdiges Drängen provozirt habe. Aber ich wollte durchaus wissen, wie Sie Sich zu meinem Buche verhalten würden. Nun weiß ich es und bin beruhigt: zwar nicht vollständig. Doch darüber will ich nicht schreiben. Später wird Ihnen das, was ich will, deutlicher und einleuchtender sein, wenn meine Schrift „über die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ veröffentlicht sein wird. Inzwischen spreche ich die Überzeugung aus, daß es für Philologen einige Jahrzehnte Zeit hat, ehe sie ein so esoterisches und im höchsten Sinne wissenschaftliches Buch verstehen können. Übrigens wird sehr bald eine zweite Auflage erscheinen.
Behalten Sie mich in gutem Angedenken und sagen Sie Ihrer verehrungswürdigen Frau Gemahlin das Beste von Ihrem
ergebenen
Friedrich Nietzsche