1872, Briefe 183–286
276. An Erwin Rohde in Kiel
<Basel, 20. und 21. November 1872>
Herzlich geliebter Freund, hier sende ich Dir das Curiosum des Ritter Schaf von Leutsch. Übrigens hat er mir auf meinen ebenfalls sehr zuvorkommenden Brief ebenfalls nicht geantwortet, vielleicht ebenfalls deshalb, weil ich mein Erstaunen über seinen Heldenmuth gar zu naiv ausgedrückt habe und am Schlusse ihn feierlich auf Dich und Deine „Afterphilologie“ verwies. Laß fahren dahin, das alte Schaf hat davon doch keinen Gewinn — und wir erst recht nicht! —
Für Freitag Abend ist mir der Besuch Wagners und Frau hier angekündigt, etwa auf eine Woche: inzwischen telegraphisches unaufhörliches Wetterleuchten zwischen Basel Mannheim und Darmstadt. Da soll es hoch hergehen und Deiner soll, in Lust und Leid, immer treulich von uns Dreien gedacht werden! Mach Dich auf ein tüchtiges Gläser- und Ohrenklingen gefaßt!
Heute Abend ist hier ein üppiges Ballfest und da es für mich mit einer gewissen fluchwürdigen Romantik verknüpft ist, so mache ich es, wie das alte Pferd Ibykus ἦ μὰν τρομέω νιν ἐπερχόμενον.
Daß Ihr in Kiel nicht allein durch das Köchinnengesuch des Ehrenblaß heimgesucht seid, hoffe ich Dir durch mitfolgenden rein unglaublichen Brief zu beweisen. Ein ehrbares Hochzeitsgelüst ist, in einfacher Kutscherdeutlichkeit, darin ausgedrückt.
Was meinst Du aber dazu daß neulich ein ehrsamer Anderer, ein ganz tüchtiger Musikus mich um einen Operntext (mit karthagischer Musik, nach Salambô), zugleich um einen Cantatentext für altkatholische Reformzwecke in unbedingtestem Vertrauen angieng und zwar — wie er ganz ruhig explizirte — weil ihn sein Freund „der Dichter Lingg“ (ich nenne ihn „den Dichterling“) in Stich gelassen habe! Das gehört doch auch zu den „scheensten besten Kindern“, auch ich habe „sulliche“!
— Ich schreibe morgen’s, nach jenem Ballfest, von dem ich mich gegen 3 Uhr trennte, weiter: der Tag ist grau und regnerisch schmutzig, mir aber geht es vortrefflich „doch Gedanken stehn so fern“ heißt es bei Tiek und bei mir. — Also Du spielst in Kiel Komödie? —
Inzwischen traf eine Karte von Ritschl ein, die ich, zur Erbauung und andern Nebengedanken, beilege. Leider auch ein Telegramm, welches den Besuch W’s in Basel abmeldet, aber mich zu einem Zusammentreffen in Straßburg auffordert: dorthin werde ich auch morgen abreisen, um von Freitag bis Sonntag beglückte Atmosphäre zu schlürfen.
Ich denke jetzt, wenn ich kann und an jedem Ort, darüber nach, durch welche Schläue ich Dich und mich zusammenbringe, besonders um Dich aus Deiner erratischen Block-Einsamkeit zu erlösen. Hier läßt sichs bereits leben, weil man so viel demokratischen Takt hat, um den „Narren auf eigne Faust“, die Existenz zu gönnen. Aber schwierig ist’s, Dich da irgendwo hinein zu denken: denn überall stehen Candidaten, selbst am Katheder des noch keineswegs lebensmüden Gerlachii.
Deine Prophezeiungen mögen wohl zutreffend sein, mein lieber Freund; mich juckt der Daumen, wenn ich an sie denke, was ja sowohl ein wahrsagerisches als Händel — von der besten Sorte verkündendes — Phänomen ist. Ich litt sehr an der schwarzen Gallsucht, als ich Deinen Brief las und lief gleich darauf spazieren, um einen vernünftigen Einfall zu haben, wie ein materielles Fundament und Postament für Dich zu erbauen sei. Bis jetzt „oede das Meer“, kein Schiff zu sehn! In Straßburg will ich mit Wagner über den Begriff einer klassischen Professur in Bologna verhandeln: auch Frl. von Meysenbug wird etwas Auskunft geben können. Was meinst Du, unter anderem, zum Rektorat in Bayreuth? Aber das sind bis jetzt alles ganz dumme Gedanken. Ein Redakteurgehalt mit c. 2000 Thl. könnte vielleicht ermittelt werden, wenn die von W. und mir längst geplante periodische Zeitschrift gegründet ist, in der, praktisch, durch Beispiel, die Möglichkeit einer hochgesinnten und durchaus fürnehmen, wahrhaft belehrenden Kulturzeitung bewiesen werden soll. Freilich erst vom Jahre 1874 an. Übrigens denke ich darüber nach, meine nächste Schrift als Festschrift für das Jahr 1874 und Bayreuth einzurichten, vielleicht wird sie den Titel haben — „der letzte Philosoph“. Ich baue daran pyramidum altius. — Ich dachte mir, daß wir auf irgend eine Weise kundzugeben hätten, wie jenes Jahr und jenes Fest zu ehren sei. —
Zuletzt bleibt immer für mich die Auskunft, Dir meine Professur feierlich zu cediren, mit der ich jetzt ohngefähr eine Einnahme von 4500 frs. genieße. Nun weiß ich zwar auch nicht recht, wo ich später unterkriechen soll, doch geht jetzt und eigentlich immer mein Schicksal so unerwartet, daß ich vielleicht schneller als man denkt darauf eine Antwort habe. Unter allen Umständen sollst Du nicht lange mehr in der trüben Materienstimmung und melancholischen Frage δός μοι ποῦ στῶ; Dich befinden; inzwischen spiele nur Komödie, liebster Freund. Wie auch ich gar nicht geneigt bin, die Miene „fröhlich pfeifender Nichtachtung“ abzulegen. Wir wollen schon, als Dioskuren, unsre Lebensrosse bändigen.
Adieu, alter Freund!
Hurra hoch! Du sollst leben!
Dein F N