1872, Briefe 183–286
272. An Erwin Rohde in Kiel
<Basel, 11. oder 12. November 1872>
Lieber guter Freund, wir werden’s schon ertragen. Hier ist das nächste, mich etwas bedrückende Faktum, daß an unserer Universität die Philologen ausgeblieben sind, für dies Wintersemester: ein ganz einziges Phänomen, das Du Dir wohl eben so deuten wirst wie ich. In einem speziellen Fall weiß ich sogar, daß ein Student, der hier Philologie studiren wollte, in Bonn zurückgehalten ist und beglückt an Verwandte geschrieben hat, er danke Gott nicht an einer Universität zu sein, wo ich Lehrer sei. — Kurz die Vehme hat ihre Schuldigkeit gethan, aber wir dürfen’s uns nicht merken lassen. Daß die kleine Universität nun gar noch durch mich leiden soll, ist recht schwer zu ertragen. Wir sind um 20 Mann hinter dem Bestande des letzten Semesters zurück geblieben. Mit äußerster Noth habe ich ein Colleg über Rhetorik d<er> G<riechen> und R<ömer> zu Stande gebracht, mit 2 Zuhörern dh. einem Germanisten und einem Juristen.
Jacob Burckh. und der Rathsherr Vischer haben sich außerordentlich über Deine Schrift gefreut. Beiden habe ich von den schönen mir übersandten Exemplaren mitgetheilt, ebenso Overbeck und Ritschl, sodann den Florentinern Olga Herzen und Frl v Meysenbug. Nun habe ich 2 Prunkexemplare: vielleicht sieht das hier Gefertigte so aus wie Du es im Traume gesehn hast. Es trägt die Aufschrift E Rohde zur Geburt der Tragoedie und vereinigt Deine beiden Abhandlungen. Diese sind für mich ein Schatz, um den mich jeder Autor alter und neuer Zeit beneiden muß: Freund Immermann hier am Ort meint immer, Deine Sachen seien mindestens so schön wie die meinigen. Kurz, man bemerkt unser Orest- und Pyladesthum χαλεποῖσιν ἐνὶ ξείνοισι und erfreut sich dran — was ich nur erwähne weil wir beide nicht bezweifeln daß viel mehr sich daran ärgern.
Von Auswärtigen hat noch Niemand einen Mucks gethan. Natürlich die Unsrigen abgerechnet. Das weißt Du, daß Wagner und Frau in wenig Wochen hierher, auf 8 Tage kommen? Romundt hat seine Antrittsrede gehalten und ist glücklich für alle drei von ihm angekündigten Collegien Zuhörer zu haben. Gersdorff kommt im Januar, auf der Durchreise nach Italien, hierher. Er war über Deine Schrift „freudetaumelnd!“
Hast Du von dem Zöllnerskandalon in Leipzig gehört? Sieh Dir ja einmal sein Buch über die Natur der Kometen an; es ist erstaunlich viel für uns darin. Dieser ehrliche Mensch ist, seit dieser That, in der schnödesten Weise in der gesammten Gelehrtenrepublik wie excommunicirt, seine nächsten Freunde sagen sich von ihm los und er wird in aller Welt als „verrückt“ verschrien! Ganz ernsthaft als „geisteskrank“, weil er nicht in das Trara-Horn der Kameraderie bläst! Das ist der Geist der Leipziger Gelehrten-Ochlokratie!
Daß ein Irrenarzt in „edler Sprache“ nachgewiesen hat, daß Wagner irrsinnig sei, daß dasselbe, durch einen andern Irrenarzt, für Schopenhauer geleistet worden ist, weißt Du wohl schon? Du siehst, wie sich die „Gesunden“ helfen: sie dekretiren für die unbequemen ingenia zwar kein Schaffot; aber jene schleichende böswilligste Verdächtigung nützt ihnen noch mehr als eine plötzliche Beseitigung, sie untergräbt das Vertrauen der kommenden Generation. Diesen Kunstgriff hat Schopenhauer vergessen! Er ist der Gemeinheit des gemeinsten Zeitalters wunderbar gemäß!
Jetzt aber muß ich in’s Colleg, will aber doch nicht mehr warten, Dir meinen Gruß zu schicken. Ich denke wir schicken uns diesen Winter so oft es geht Blättchen und Briefchen, aber auch ehrlich lange Episteln? Nicht wahr? Mein liebster Freund, sei nur guter Dinge, das Gute siegt schon dadurch daß man das Böse vergißt. Vergessen wir die Hunde!
Von ganzem Herzen
Dein F.