1872, Briefe 183–286
235. An Friedrich Ritschl in Leipzig
Basel 26 Juni 72.
Verehrtester Herr Geheimrath,
von Herzen danke ich Ihnen für die Übersendung des schönen und stattlichen Catalogs, vornehmlich auch, weil Sie gütig genug waren, mich auf der Adresse als „Ehrenmitglied d<er> L<eipziger> S<ocietät>“ zu bezeichnen, ein Ausdruck, der mich an dem Tag, an dem Ihre Sendung eintraf, zum Lachen brachte, weil ich glaubte vielmehr als „Schandemitglied“ angeredet werden zu müssen. Denn ich hatte mich eben in dem von Herrn Wilamowitz vorgehaltenen Spiegel beschaut und war mir der ganzen Scheußlichkeit meiner Physiognomie bewußt geworden.
Das geht nun seinen Lauf, und ich wüßte nicht, weshalb ich die Sache ernsthaft nehmen sollte — vorausgesetzt, daß Sie und die Wenigen Anderen, die mich kennen an mir noch nicht gerade verzweifeln. Den Berlinern habe ich aber jedenfalls einen Wuthschrei entlockt — das ist auch etwas. Denn nur so verstehe ich das Pamphlet: aus ihm redet weniger W. zu mir als andere „Höhergestellte“.
Nun werden Sie inzwischen in gleicher Weise wie ich durch Wagners offenen Brief an mich (Sonntagsbeil. der Norddeutsch. Allg) überrascht und wie ich hoffe erfreut worden sein. Da giebt es in Berlin einen zweiten Wuthschrei. Das thut mir ganz wohl — denn das dortige freche Gesindel hasse ich und halte es für schädlich und verderblich in allen Fasern unseres Lebens und unserer Bildung.
Nun kommt aber das Dritte und Stärkste. Die ganze Perfidie, Verdrehungslust und Beschimpfungsfrechheit jenes W. hat ja nur den festen Glauben zum Hintergrund, daß kein Philologe vom Fache für meine Ansichten eintreten werde: man dachte mich gänzlich isolirt. Nun schreibt mir Freund Rohde, daß er eine Schrift unter den Händen habe, rein philologischer Natur, in der Form eines Sendschreibens an R. Wagner. Darin wird der juvenile Bursche auf ehrliche philologische Manier und zum warnenden Exempel abgethan.
Nun habe ich eine Bitte an Sie, verehrtester Herr Geheimrath und vertraue dabei auf Ihre Liebe zu mir. Ich möchte gern daß die Rohdesche Schrift (c. 40 Seiten — wie gesagt unter dem Titel eines Sendschr. an R. W.) gerade bei Teubner erschiene und dadurch von vornherein auf den großen philologischen Markt gebracht würde. Das heißt — ich möchte nicht, daß wir wieder unsre Zuflucht zu einem Musikverleger (wie Fritzsch) nehmen müßten. Das große Aufsehn, das Rohde’s Schritt hervorrufen wird, mag Teubner’s den Muth zu diesem Verlage geben. — Wäre es Ihnen möglich, mich in diesem Wunsche etwas zu unterstützen? Eine gewisse Genugthuung vor den Leipzigern ist man mir ja schuldig; glauben Sie nicht auch, daß der von uns ausgehende Gegenschritt so stattlich und festlich wie möglich gethan werden müsse? —
Dies, wie gesagt, ist meine Bitte — sagen Sie mir Ja! oder Nein!, ich werde zufrieden sein. Denn ich gehöre in der ganzen Sache nicht zu den „Aufgeregten“.
Meine Schwester ist bei mir. Sie hat mir viel von Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin erzählt, viel und doch noch lange nicht genug; Sie glauben gar nicht, wie sehr ich mich darüber freute daß ich bei Ihnen und in Ihrem Hause noch ein so gutes und warmes Angedenken habe; denn wenn man solches „sonderbares Zeug“ macht wie ich, fürchtet man alle Gunst und Liebe der Befreundetsten verscherzt zu haben. Das ist aber eine falsche Furcht, das weiß ich: denn gerade in jenen Momenten bewährt sich jene treue Liebe, deren immer auf das dankbarste eingedenk ist
Ihr ergebenster Schüler
Friedrich Nietzsche.