1872, Briefe 183–286
239. An Erwin Rohde in Kiel
<Basel, 16. Juli 1872>
Hier, mein lieber guter Freund, ist der Titel, die mit Jubel und Hohngeschrei begrüßte Erfindung meines Hausgenossen Prof. Overbeck.
*Die Afterphilologie
des Dr U. v. Wilamowitz-Möllendorf.
Sendschreiben
eines Philologen*
an
Richard Wagner.
Deinen Namen setzest Du dann erst unter den Brief dh. am Schluß (aber vollständig mit allen Ehren!) Im Schlußwort kannst Du mit Wohlgefallen Wilamowitz einigemale noch als „Afterphilologen“ anreden. Er gilt uns als Vertreter einer „falschen“ Philologie und der Erfolg Deiner Schrift soll sein, daß er auch den andern Philologen so erscheine. An Ritschl will ich noch recht ernst und eindringlich schreiben, daß er doch den unbegreiflichen Einfall aufgeben möge als hätten wir es auf einen Angriff auf die Altertumswissenschaft (oder die Geschichte! abgesehen. Ich hatte ihm nur geschrieben, daß Du in einfacher philolog. Manier den dreisten Burschen abthun wolltest. Nun hat ihn aber der Brief W<agner>s so erschreckt, daß er vor uns allen zusammen Angst bekommen hat. Dazu die Sorge für die „Teubnersche Philologie“! Ich empfehle Dir dies als Schlagwort innerhalb der Vier Wände.
In Betreff der Wil.-Behauptung über Aristarch und Titanen kann ich nichts auffinden, worauf er sich wohl beziehn möchte. Über das Vorhomerische der Titanenkämpfe hat am ausdrücklichsten Welcker geredet Mythologie I 262. Daß ich nur nicht immer wieder die weichliche Behauptung von der homerischen Welt als der jugendlichen, dem Frühling des Volkes usw. hörte! In dem Sinne, wie sie ausgesprochen ist, ist sie falsch. Daß ein ungeheures, wildes Ringen, aus finsterer Rohheit und Grausamkeit heraus, vorhergeht, daß Homer als Sieger am Schluß dieser langen trostlosen Periode steht, ist mir eine meiner sichersten Überzeugungen. Die Griechen sind viel älter als man denkt. Von Frühling mag man reden, wenn man vor den Frühling noch den Winter setzt: aber vom Himmel gefallen ist diese Welt der Reinheit und Schönheit nicht.
Meine Satyr-auffassung gilt mir als etwas sehr Wichtiges in diesem Umkreis von Untersuchungen: und ist etwas wesentlich Neues, nicht wahr? — Sehr anstößig ist daß ich die Satyrn, in ihrer ältesten Vorstellung, bocksbeinig genannt habe: es ist aber gar zu dumm, sich dagegen einfach nur auf Archäologie usw. zu berufen. Denn die Archaeologie kennt nur den veredelten Typus aus dem Satyrspiel: vorher liegt die Vorstellung von den Böcken als den Dienern des Dionysus und von den Bockssprüngen seiner Verehrer. Die Bocksbeine sind das eigentl. Charakteristische der ältesten Vorstellung: und ohne allen archäolog. Beweis möchte ich behaupten daß die οὐτιδανοί καὶ ἀμηχανόεργοι des Hesiod bocksbeinig waren, also capripedes wie Horaz sagt od. 2, 2. und andre Dichter (auch griechische). σάτυροι erkläre ich, wie auch τίτυροι als Reduplikationen der Wurzel τερ (wie Σίσυφος zu σοφός sich verhält.) τορός durchdringend hell, σάτυροι die „durchdringend schreienden“, als Beiwort der Böcke, wie μηκάδες der Ziegen. Ich denke, das ist eine famose Gleichung τορός zu τίτυρος = σοφός zu σίσυφος. Gefällt’s Dir, so führe es doch mit an. — Natürlich verwechsle ich Satyrn und Pane nicht, wie Wil. mir Schuld giebt. Ich sage p. 8: „Apollo der das Medusenhaupt keiner gefährlicheren Macht entgegenhalten konnte“; Wil. sagt dafür „schwingen“ 9 und 18 wo er mich sogar mit Anführungsstrichen falsch citirt. Ich begreife jetzt noch nicht, woran W. Anstoß nimmt: vorausgesetzt daß er weiß, was die Aegis ist. — Daß ich nur eine Scene fingire, wie etwa für den Apoll von Belvedere, ist ja doch klar. — Für Archilochus kommt bes. in Betracht Westphal Geschichte der alten und mittelalterl. Musik von p. 115 an: davon hat der Bursche gar keine Ahnung. — Zu adnot. p. 26 Natürlich heißt der Orakelvers Σοφοκλῆς σοφὸς, σοφότερος δ᾽Εὐριπίδης. — „Die ewig heitre Liebenswürdigkeit des Sophokles“ hat mir, als Gesammtprädikat, viel Spaß gemacht. — p. 29 die obersten Zeilen, steht ein himmlisches Beispiel für die gedankenlose Flachheit des lesenden Wil. Überhaupt ist die ganze Seite lustig. — p. 18 verdienen die skandalösen zotigen Witze in der Mitte der Seite eine Züchtigung: ich bitte Dich nachzuschlagen, was ich auf Seite 19 eigentlich gesagt habe. Auch das Motto ist scheußlich gemein. — Die Verwechslung der Elegie mit der Lyrik ist auch hübsch. Auch mag sich der αὐλητὴς Mimnermus über das freuen, was p. 17 steht. — Daß Aeschylus den Höhepunkt der antiken Musik bezeichne, nebst Simonides Pindar Phrynichos Pratinas, müssen wir doch einfach dem Aristoxenus glauben. (Wil. p. 21) Dessen Gesammtempfindung unterwerfe ich mich auch in Betreff der neueren Dithyrambiker. Über die „Stimulanzmusik“ redet ja Aristophanes deutlich: für das Mimetische weiß ich leider nichts mehr anzuführen. Ich „schmähe“ nicht. Für den Geist der neuen Nomen- und Dithyrambenmusik müssen wir uns den Euripides zu Nutze machen, dessen σκηνικὴ μουσικὴ jener Musik innerlich verwandt war: und dazu die Aristophanische Parodie. — Über die Stellung des Socrates zur tragischen Kunst ist eine höchst merkwürdige Stelle Arist. Ran. 1491 χαρίεν οὖν μὴ Σωκράτει | παρακαθήμενον λαλεῖν | ἀποβαλόντα μουσικὴν | τά τε μέγιστα παραλιπόντα τῆς τραγῳδικῆς τέχνης usw. — Du weißt daß ich bei den „Musen mit Dionysus in der Mitte“ an das bei Wagner in Tribschen hängende Aquarell Genelli’s gedacht habe. — Sage es doch noch einmal den Philologen, daß mein Sokrates Hand und Fuß hat: ich fühle so stark den Contrast meiner Schilderung im Gegensatz zu den anderen: die mir alle so todt und verwest vorkommen. — Die Moira als ewige Gerechtigkeit gehandhabt in den Händen Zeus’ ist die wesentlich aeschyleische Vorstellung. Die vorletzte Seite des Wil. ist recht gemein, durch Unterschiebungen usw. Die Beziehung des Aesch. zu den Mysterien deutet doch auch Aristophanes an. — Mein lieber Freund, verzweifle nicht und ärgere Dich nicht — Du hast eine greuliche Arbeit unter den Händen: und wenn ich mir denke, daß Du Dich dabei so heillos befindest, so schäme ich mich und bereue schmerzlich, überhaupt von Dir ein solches Opfer angenommen zu haben. Ich empfehle Dir etwas Hohngelächter und einige diabolische Freuden als Würze des Daseins. In einer ruhigen Zwischenpause sollst Du dann von mir mancherlei über den Tristan hören so wie über ein ungeheures, Bayreuth betreffendes Unternehmen, das ich in München gezeugt habe und das eine große Verantwortlichkeit in sich schließt. Ich bin Dir immer nahe, lieber Fr<eund>!
F. N.
An Fritzsch schreibe ich heute. Also 2 Bogen?
[auf dem Umschlag]
Schicke mir doch die Vorträge! Bitte!