1872, Briefe 183–286
260. An Richard Wagner in Bayreuth
<Basel, 15. Oktober 1872>
Verehrter und geliebter Meister,
es ist heute für mich der erste Tag eines neuen Lebensjahres; da verstehen Sie gewiss meine herzliche Sehnsucht, ein paar Worte an Sie zu entsenden und damit den neuen Zeitraum zu beginnen. Ich weiss es, Sie werden für mich auch im neuen Jahre bleiben, was Sie im alten für mich waren — der feste Anker, der mich hält und der es verhindert, dass ich in die schlimme Strömung der Zeit gerathe: das Symbol des tapfersten ausharrenden Muthes. Wenn ich an Sie denke, so empfinde ich immer den stärksten Antrieb zum Besser-Reifer-Ruhigerwerden; ich weiss nicht, woher ich diesen Antrieb nehmen sollte, wenn ich Sie nicht hätte. Denn alles Andere mahnt zur Hast und zum raschen Erfolg. Nun aber habe ich es auf das Bestimmteste erfahren, dass alles, was mich dazu drängt und treibt, mich von mir selbst abführt, mich beklemmt und verwirrt, und dass ich unzufrieden, unproductiv und wenig nütze bin, so lange noch so ein moderner Stachelstab über mir schwebt. Dagegen werde ich glücklich und heiter gestimmt, wenn ich mir vorstelle, durch irgend welche Production einmal Ihren Beifall zu gewinnen — bei solchem Gedanken kommt mir aber dann immer das zuletzt Gemachte sehr zweifelhaft und embryonisch vor, und ich sage mir wieder „Lass dir nur Zeit und gerathe nicht in Unruhe“. Mit anderen Worten, geliebter Meister: Sie müssen noch recht warten, ehe ich etwas Leidliches zu Stande bringe und Ihnen eine Freude machen kann. Inzwischen bleibt es leider dabei, dass ich, als Werdender, Ihnen wie Sie sagen „nur Sorgen“ und nichts als Sorgen mache.
Doch geht es mir jetzt gut; vom Hochgebirge aus habe ich Ihrer verehrtesten Frau Gemahlin geschrieben, wie wohl und gesund ich dort mich fühlte. Die Einsamkeit ist für mich etwas sehr Erträgliches, ja Beglückendes, in einem früheren Jahrhundert wäre ich so etwas Einsiedlerhaftes geworden. Hier in Basel bin ich augenblicklich wieder recht allein; meine Schwester hat mich seit 14 Tagen verlassen, meine guten Kameraden sind alle noch verreist. Nur das Pädagogium zwingt mich so bald wieder am Ort zu sein. Ich fand, zurückkehrend, den sechsten Band Ihrer Schriften vor und gerieth so zufällig auf die wundervolle Schlussstrophe der Brünnhilde, die mir ganz neu war; sofort habe ich sie Rohde zugeschickt, damit auch er sich erbaue an dem „wunsch- und wahnlos heiligstem Wahlland“ und an „Trauernder Liebe tiefstes Leiden schloss die Augen mir auf: enden sah ich die Welt“. Es schmerzt mich recht, sie nicht componirt zu wissen, so sehr ich auch begreife, weshalb sie innerhalb der musikalisch-mythischen Tragödie nicht componirt werden musste. Es wäre so ein Vers für das Sanctuarium der allerprivatesten Hausandacht: für die ich übrigens auch den herrlichen Männerchor aus dem letzten Stück des Tannhäuser (vor „Heilige Elisabeth, bitte für mich!“) verwende, den ich ganz neuerdings erst entdeckt habe. Dann habe ich mit nicht endendem Entzücken den letzten Act des Siegfried wieder und wieder vorgenommen. Habe ich Ihnen schon erzählt, dass ich die Stelle wiedergefunden habe, die Sie damals componirten, als ich 1869 im Mai meinen ersten Besuch bei Ihnen in Tribschen machte? Es war ein schwüler brütender und üppiger Maien-Pfingstsonnabend; alles wuchs rings und duftete. Ich wagte lange nicht ins Haus zu gehen, sondern wartete etwas versteckt unter den Bäumen, gerade vor den Fenstern, aus denen mit größter Eindringlichkeit oft wiederholte Accordfolgen ertönten. Ich will schwören, es sei die Stelle gewesen
„Verwundet hat mich, der mich erweckt!“
die Klänge sind mit Erz mir ins Gedächtniss geschrieben, und lange spielte und sang ich sie mir vor, bevor ich den Siegfried in die Hände bekam; sie schienen mir so viel zu sagen.
Rohdes Sendschreiben an Sie soll nun endlich fertig gedruckt sein: ich weiss noch gar nichts davon, wir werden überrascht sein. Die französische Übersetzung meines Buches durch Gräfin Diodati ist tüchtig, bis über die Hälfte, fortgeschritten, wie man mir schreibt. Nun, meinen Lohn habe ich dahin, denn die Nationalzeitung soll mich neulich einmal als den einzigen aus dem „Tross Ihrer litterarischen Lakaien“ bezeichnet haben, der einen akademischen Lehrstuhl inne hat. Mit diesem neuen harmlosen Titel versehen nehme ich heute, geliebter Meister, von Ihnen Abschied. Wann sehe ich Sie wieder? —
Ihr treuer und
herzlicher Zuneigung Ihr Nietzsche.