1872, Briefe 183–286
201. An Erwin Rohde in Kiel
<Basel, Mitte Februar 1872>
Schnell, mein lieber treuer Freund, will ich Dir noch ein Paar Zeilchen schreiben. Mit der Augsburgerin ist es nichts, wir wollen uns mit diesem Blatte nicht einlassen, weil es gegen W<agner> infame Geschichten auf dem Gewissen hat. Die Norddeutsche stünde uns zu Gebote — aber kommt es Dir nicht lächerlich vor? Mir wenigstens. Denke außerdem, daß ich mit Dir über die Taktik einer Anzeige meines Buches in sofern nicht einverstanden bin, daß ich alles Metaphysische, alles Deducirende fern gehalten haben möchte: denn gerade dies wirkt, in einem Hohlspiegel zusammengedrängt, schlechterdings nicht anreizend zum Lesen, sondern umgekehrt. Glaubst Du nicht selbst, daß so ein Zarnckischer Leser, wenn er Deine Anzeige liest und vom Buche sonst nichts weiß, sich der Last, es zu lesen, enthoben fühlen darf — während gerade das Umgekehrte der gewünschte Erfolg sein muß, daß alle, die sich mit dem Alterthum befassen, es pflichtmäßig erst lesen müssen. Wir wollen es doch ja nicht den guten Philologen so leicht machen, daß wir sie selbst fortjagen — sie sollen sich daran erkennen. Außerdem ist es durchaus nicht nöthig, daß dies Buch rein metaphysisch und gewissermaßen „transmundan“ wirke: da ist mir Jakob Burkhardt ein lebendiger Beweis: er der sich alles Philosophische und vor allem alle Kunstphilosophie, also auch meine, höchst energisch vom Leibe hält, ist von den Entdeckungen des Buches für die Erkenntniß des griechischen Wesens so fascinirt, daß er Tag und Nacht darüber nachdenkt und mir das Beispiel der fruchtbarsten historischen Benutzung an tausend Einzelheiten giebt: so daß ich in seinem Sommercolleg über griech. Culturgeschichte viel! zu lernen haben werde, um so mehr als ich dann weiß, wie vertraut und heimisch der Boden ist, auf dem dies gewachsen. Du und er — Ihr Beide zusammen gebt wirklich das Ideal des rechten Lesers ab: während Du von einer „Kosmodicee“ sprichst, erzählt er mir, daß er jetzt erst den Athenäus recht verstünde usw. Da nun aber eine gewisse „Notorietät“, wie Burkhardt sagt, für ein Buch erst erreicht sein muß, ehe es ernst genommen wird, so ist die Taktik einer Anzeige etwas der Überlegung Werthes. Deine Anzeige findet übrigens Wg. „vortrefflich“: auch Frau W. findet daß sie viel, viel zu gut sei für die Augsburgerin; doch wünscht letztere, Du hättest lieber auf die That als auf das Werk aufmerksam machen mögen. Damit bin ich nun wieder nicht ganz einverstanden: denn worin die That besteht, ist nicht so leicht, ohne die größte Beleidigung des lesenden Publikums, auszudrücken: und eine That soll man an ihren Erfolgen ermessen — vielleicht sind diese hier sehr gering, vielleicht läuft es auf einen elektrischen Schlag in’s Wasser hinaus — kurz, ich mag nicht, daß man von mir redet. Sodann muß man, wenn man „Thaten“ abschätzen will, auktoritativ reden können.
Also, mein lieber Freund — ich sage Dir alles ganz offen, wie ich’s fühle. Ich danke Dir für Deine edele Bemühung und werde Deine Anzeige brieflich unter Freunden herumschicken — aber laß uns ferne bleiben von dem Glauben, daß wir jetzt mit solchen Anzeigen etwas ausrichten. Die erwünschte „Notorietät“ wird vielleicht durch skandalöse Beurtheilungen und Beschimpfungen auch erreicht — ich empfehle Dir, nichts für mich zu schreiben, wie ich es mit Bestimmtheit weder von Wagner noch von Burkhardt erwarte: wir Alle wollen warten und uns privatim freuen oder ärgern.
Soeben werde ich durch einen Brief Ritschl’s sehr überrascht und im Grunde recht angenehm: er hat gegen mich nichts von seiner freundschaftlichen Milde verloren und schreibt ohne jede Gereiztheit: was ich ihm hoch anrechne. Ich schicke Dir seinen Brief, mit der gleichen Bitte, wie früher — mir die Dokumente einmal gelegentlich sicher zuzustellen. Du erfährst aus dem Briefe auch etwas in Betreff Dorpat’s.
Hier bin ich in voller Gedanken-thätigkeit über die Zukunft unserer Bildungsanstalten: und es wird Tag für Tag „organisirt“ und „regenerirt“, allerdings zunächst nur im Kopfe, doch mit der bestimmtesten praktischen „Tendenz“. Ich drücke mich heute infam aus: rechne meine stilistische Noth auf einen ewig fließenden Schnupfen und allgemeines Mißbehagen durch κατάρρους mit βράγχος. Hast Du denn nach Tribschen geschrieben? Ich erzähle Dir zum Schluß von dem 22 Mai dh. Wagner’s Geburtstag, Grundsteinlegung vom Theater in Baireuth, desgleichen vom Wagnerschen Haus, endlich klassische Aufführung der 9ten Symphonie — also „Alle nach Konnewitz!“ Wirklich treffen wir alle für die Pfingstwoche in Baireuth ein. Lieber Freund, es ist fast nothwendig, auch für Dich, dort zu sein. Ich meine dies so ernst als möglich und denke mir, daß es Dir auch so scheinen wird. Fünfzig Jahre später würden wir es für unverzeihlich, für verrückt halten, nicht dabei gewesen zu sein — also überwinden wir die bewußten Unbequemlichkeiten — Basel und Kiel wird wohl in Baireuth seine Mitte haben. Ich beschwöre Dich wirklich bei unserm Allerheiligsten, der Kunst — komme dorthin! Wir müssen dies zusammen erleben, ebenso wie nächstes Jahr die „Bühnenfestspiele“. Schreib mir recht bald, mein lieber treuer guter Freund und denke an mich wie an Einen, der mit einem ungeheuren Schallrohr Dir zuruft: Baireuth!!
F N.