1872, Briefe 183–286
245. An Hugo von Senger in Diablerets
Basel 25 Juli 72.
Verehrter Freund,
von Herzen danke ich Ihnen; ich hoffe, wie Sie, daß unsere, unter dem Zeichen des Tristan, erfolgte Annäherung etwas von dem Charakter jenes Sternbildes an sich tragen möge: nämlich Ernst, Tiefe, Dauer und Glück!
Heute übersende ich Ihnen eine Anzeige meiner Schrift von Prof. Dr Rohde (an der Universität Kiel). Sie ist mir überraschend werthvoll, weil sie klingt wie eine freie und schöne Variation zu meinem Thema — und nicht wie eine Recension!
Ich lege ein zweites Exemplar bei und würde mich sehr geehrt fühlen, wenn Sie mit demselben an Mad. Diodati meine angelegentliche Empfehlung machen wollten.
Denken Sie daß ich nächsten Dienstag wieder nach München reise, zunächst um bei dem Jubiläum der Universität als einer der Vertreter von Basel zugegen zu sein — sodann um Lohengrin Holländer und Tristan zu hören. Sie wissen daß ich Tristan zwei Mal hörte — aber die beiden anderen Werke nie! Nie! Ist es glaublich! Und ich habe bis jetzt in Europa gelebt!
Haben Sie gute Nachrichten von Hr v Bülow? Die Zeitungen erzählen so Schönes und Hoffnungsvolles, daß ich, vorläufig, mich beschränke zu hoffen, aber nicht zu glauben!
Ich grüße Sie von Herzen. Vielleicht daß ich bald einmal wieder etwas von Ihnen höre? Oder daß ich Sie sehe? — Zuletzt sind wir Beide in der Schweiz; ist es nöthig, erst nach München zu gehen, um sich im Café Maximilian zu begegnen?
Ihr freundschaftlich
ergebener
Dr. Friedrich Nietzsche
P. o. p.