1872, Briefe 183–286
248. An Carl von Gersdorff in Berlin
<Basel, 2. August 1872>
Mein lieber, armer Freund, wie geht es denn jetzt? Das ist ja eine ganz abscheuliche Geschichte: denke nur daran, was wir noch alles hören müssen in unserem Leben (mehr als andere Menschen) Also ich bitte Dich herzlich, befleißige Dich Deiner Genesung — „ach eine recht dumme Bitte“, wirst Du sagen.
Im Übrigen bin ich nicht in München. Ich will nicht leugnen, daß ich fast augenblicklich die Lust verlor, als ich von Dir die Schmerzenskunde vernahm. So ist’s besser. Entweder zusammen — oder gar nicht.
Eben habe ich zum zweiten Male an Frl. von Meysenbug geschrieben (Schwalbach, Hôtel Stadt Mainz) Sie kommt wahrscheinlich in nächster Zeit nach der Schweiz und wir wollen in irgend einem schönen höheren Punkte uns begegnen. Es ist ein so liebevolles und ausgezeichnetes Wesen — wie heimisch waren wir doch bei ihr in München! Übrigens empfehle ich Dir dringend zu lesen „Aus den Memoiren eines Russen“ von Alexander Herzen. Höchst lehrreich und schrecklich!
Deussen war hier, ein paar Tage. Ach, das ist ein eignes Kapitel. Er hat mich eigentlich bis zur Erschöpfung gequält — das Resultat ist, wie er mir heute schreibt — die volle Emancipation. Ich bin ernsthaft besorgt — sage es Niemanden — besorgt für seinen Verstand. Ein gänzlich unbefriedigter Ehrgeiz verzehrt ihn.
Die Rohdesche Schrift ist fertig und, so viel ich weiß, bereits bei Fritzsch.
Ich selbst arbeite meine Bildungsvorträge um.
Die Proklamation habe ich noch nicht gemacht. Bis jetzt fehlen mir alle Gedanken dafür — Gott weiß, wo sie stecken. Aber ich kann mich nicht zwingen. Dazu war es grenzenlos heiß in Basel.
Von Frl. Kestner (der Tochter Lotte’s) habe ich Goethesche Briefe (originaliter) geschenkt bekommen.
Romundt läßt seine philosophische Schrift hier drucken. Wir bilden einen angenehmen Kreis, der treffliche Overbeck als dritter — Brockhaus übrigens geht im Herbst nach Kiel, verläßt unseren Kopf also.
Ich esse jetzt, seit Anwesenheit meiner Schwester, mit ihr in den drei Königen.
Nun, mein lieber Freund, mag es Dir recht gut und immer besser gehn! Im Herbst komme ich nach Norddeutschland. Sehen wir uns? Ich denke doch? Zuletzt müßten wir wirklich noch Rundreisebillets im Interesse unsrer Freundschaft haben.
Verzage nicht: ich kenne auch das Quälende der Ohrleiden und weiß auch wie gefährlich sie sind. Ich bin nicht eher ruhig bis ich von Deiner totalen Genesung höre.
Dein getreuer
Friedrich N.