1872, Briefe 183–286
195. An Franziska Nietzsche in Naumburg
30. 1. 72
Heute, mein<e> liebe Mutter, nur ein ganz kleines Geburtstagsbriefchen, unverhältnißmäßig klein bei den guten vielen und starken Wünschen, die ich heute für Dein Wohl und unsere Gemeinsamkeit empfinde. Der Himmel scheint Dir zu Deinem Festtage zu lachen: und schöne Frühlingsblumen wird man Dir auf den Tisch gestellt haben. Nun, so wollen wir denn hoffen, daß das Jahr Gutes für uns alle, heiteren Himmel über uns, und schöne Blumen um uns, auf den Tisch Deines Daseins legen möge: und da wir in unserer Familie bei unseren persönlichen Wünschen bescheiden zu sein pflegen, und uns über Kleines schon sehr zu freuen vermögen, ist es doch wohl wahrscheinlich, daß das Jahr Dich und uns befriedigen wird. Nicht wahr?
Es fehlt mir augenblicklich an Zeit, auszurechnen, der wie vielte Geburtstag es eigentlich ist, den Du feierst. Ist es eine mäßige Annahme, wenn ich mir einbilde, daß Du bald an die Mitte Deines Lebens kommen wirst, oder wie scheint es Dir?
Was wollen wir denn für dieses Jahr über unser Wiedersehn verabreden? Ich weiß nicht recht, was Euch zu der Annahme bringt, daß ich Ostern nach Naumburg kommen würde. Habe ich das irgendwann gesagt? Ich frage nur. Denn im Grunde habe ich wenig einzuwenden, höchstens etwa einmal im Gegentheil anzufragen, ob Ihr nicht auch an eine Schweizerreise bereits gedacht habt. Darüber sagen Eure Briefe nichts, und ich weiß nicht, was Ihr darüber denkt oder wünscht. Liegt Euch vielleicht an einer eklatanten Einladung von meiner Seite? — Ich frage nur. Oder soll ich Euch von Naumburg abholen? Gewiß habt Ihr irgend etwas schon im Stillen ausgebrütet, nur wollt Ihr mich erst langsam auf den Einfall kommen lassen, damit ich mir nachher vorstellen soll, ich habe Euch veranlaßt! Ist es nicht so? Ich frage nur. Mit Greifswald habe ich, scheint es mir, bei Euch Glück gemacht dh. mit Nicht-Greifswald. Ach, seht nicht zu viel in einer solchen Entschließung, und jedenfalls keine Sorge für meine Bequemlichkeit! Die wahren Gründe, wenn ich sie einmal erzählte, würden Euch vielleicht gar nicht gefallen. Ich bin nach dieser Seite der „akademischen Carrière“ so wenig ehrgeizig: und wenn ich irgendwo ehrgeizig wäre, so wäre es in Dingen, die vielleicht nur Hohn, Gelächter und gar kein Geld einbringen. So steht es bei mir: Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie wenig ich bei solchen Entschließungen an mein Behagen oder Fortkommen oder Lebensglück oder an gute Collegen usw. denke. Man muß nur wissen, was ein Ort überhaupt geben kann: einen befreundeten Menschen und ein ehrenhaftes Ansehn. Wer beides hat, der wird nicht gerne in den Glückstopf greifen: denn der Nieten sind zu viele. Und so halte ich es in Basel aus — mehr sage ich nicht. In mehreren ähnlichen Fällen würde ich ganz ebenso handeln — und nur in sehr wenigen, sehr unwahrscheinlichen anders. Wenn Ihr daraus den Schluß ziehn wollt, daß Basel für eine längere Zeit wohl noch mein Domicil sein wird, so thut Ihr recht. Aber die Ursache ist nicht ein allgemeines Wohlbefinden, sondern die Weisheit der Resignation in unwesentlichen Dingen, wenn man wesentliche im Auge hat. Diese Wesentlichen sind aber einstweilen bei mir vom Ortswechsel unabhängig.
Nochmals, meine liebe Mutter, meine Glücks und Segenswünsche!
In herzlicher Liebe
Dein Sohn.