1872, Briefe 183–286
243. An Malwida von Meysenbug in Bad Schwalbach
Basel 24 Juli 1872.
Gnädiges und verehrungswürdiges Fräulein,
in der nächsten Woche will ich wieder nach München reisen, zunächst als Vertreter der Universität bei dem Jubiläum; im Grunde aber benutze ich dies Jubiläum vor mir selbst als Vorwand, es treibt mich die herrliche Erinnerung an meinen letzten Münchener Aufenthalt; und wenn ich es, bei dieser Wiederholung, nur halb so gut erlebe, wie damals, so bin ich sehr glücklich. Gersdorff wird wahrscheinlich auch wieder kommen, den Tristan werden wir wahrscheinlich auch wieder hören — aber das Eine fürchte ich um so mehr: daß ich Sie, verehrtestes Fräulein, und mit Ihnen die heimisch-wohlthuende und erquickende Atmosphäre unseres damaligen Zusammenseins nicht wieder finden werde. Hier muß also die dankbare Erinnerung helfen; und ich verspreche Ihnen hiermit, daß sogleich das erste Glas, welches ich zusammen mit Gersdorff in München trinken werde, Ihnen und jener schönen Erinnerung geweiht sein soll.
Inzwischen habe ich durch die Zeitungen etwas aus München gehört, was — wenn es wahr sein sollte — für die Bayreuther Dinge ebensowohl als für uns Alle von aufregender Bedeutung ist: daß nämlich Hr von Bülow zum Generalintendanten ernannt, Perfall aber gestürzt sei dh. das inzwischen frei gewordne Amt eines Oberceremonienmeisters erlangt habe. Ich würde aus einer solchen Thatsache auf die günstigsten Möglichkeiten schließen: damit wäre vielleicht die Brücke zu mehrfachen Aussöhnungen — Verständigungen gefunden; und hoffentlich ist es dann auch möglich, die ausgezeichneten Münchener Künstler (ich meine besonders das Orchester) nicht länger in dieser peinlichen Entfernung von Bayreuth halten zu müssen. Auch für die persönlichen Dinge Hr v B.’s wäre damit eine Bahn geöffnet. Übrigens ist Gersdorff, auf seiner Rückreise von Bayreuth, eine größere Strecke zusammen mit den Masetti’s gefahren, in der lebhaftesten Unterhaltung: man hatte ihn an der Lektüre des Tristanbuches als Münchener Festgast erkannt: Gersdorff schreibt, er habe besonders Gelegenheit gehabt, kräftig für Frau W<agner> einzutreten und freue sich, gerade das gekonnt zu haben.
Der Plan — Sie wissen, gnädigstes Fräulein, welcher Plan — hat die Billigung von Frau W. gefunden und ist als „praktisch“ anerkannt worden — ein seltner Stolz für mich unpraktischen Gesellen. Leider ist jetzt alle Welt in aller Welt zerstreut: und so hat G. bis jetzt nur brieflich sich an Frau v. Schleinitz wenden können. Frau W. will Feustel für die geschäftliche Leitung des Unternehmen’s gewinnen. Der nächste Winter muß die Sache fertig machen: wenn Sie aber, verehrtes Fräulein, die eventuelle Zustimmung der Ihnen befreundeten Personen schon jetzt gewinnen könnten, so thun Sie es doch ja, ich bitte Sie recht sehr darum. Bei meinem nächsten Münchener Aufenthalte will ich versuchen, recht thätig zu sein. —
Nächstens erscheint eine Schrift meines Freundes Rohde, als „Sendschreiben eines Philologen an R. W.“, in der der Pamphletist gezüchtigt wird. Dagegen bin ich mit dem ersten Entwurfe einer neuen Schrift beschäftigt — der Zustand erster Conceptionen hat etwas Sehr-Beglückendes und Einsam-machendes; — trotzdem bin ich aber überzeugt, bei manchen Freunden meines früheren Buches einen tüchtigen Mißerfolg zu erleben. Denn es geht darin gar nicht „dionysisch“ zu, aber es ist sehr viel von Haß Streit und Neid die Rede, das gefällt nicht. Denn so sind die meisten Leser — sie construiren sich nach einem Buche den Autor, und wehe, wenn er in einem nächsten Buche ihrer Construktion nicht entspricht!
Nun schreibe ich Ihnen noch ein paar Gedichtchen ab, ungedruckte Gedichtchen von Goethe, als „Reisesegen“ der künstlerisch und menschlich sehr befähigten Gräfin E<gloffstein> zugesandt. Sie wurden mir in diesen Tagen von Frl. Kästner (der letzten noch lebenden Tochter Lotte’s) vorrecitirt, und ich citire sie wieder aus dem Gedächtniß — Ihnen, gnädigstes Fräulein, und Keinem Menschen weiter; denn die anderen Menschen lassen sie drucken.
Reisesegen.
Sey die Zierde des Geschlechts!
Blicke weder links noch rechts!
Schaue von den Gegenständen
In Dein Innerstes zurück!
Sicher traue Deinen Händen!
Eignes fördre — Freundesglück!
Reisesegen (bei einer Reise nach Dresden)
Ein guter Geist ist schon genug:
Du gehst zu hundert Geistern!
Vorüber wallt ein ganzer Zug
Von großen, größern Meistern.
Sie grüßen Alle Dich fortan
Als ihren Junggesellen;
Sie winken freundlich Dir heran
Zu ihnen Dich zu stellen.
Du stehst und schweigst am heilgen Ort
Und möchtest gern sie fragen. —
Am Ende ist’s ein einzig Wort,
Was sie Dir alle sagen.
Dies Wort ist „Wahrheit“. —
Damit nehme ich heute von Ihnen Abschied. Wenn Sie es mir gestatten wollten, so gebe ich Ihnen von Zeit zu Zeit von mir Nachricht, um bei jeder Gelegenheit Ihnen sagen zu können, wie sehr ich Sie, verehrungswürdiges Fräulein, liebe und wie dankbar ich immer an Sie denke.
Mich Ihnen und Fräulein Olga H<erzen> recht von Herzen anempfehlend grüße ich Sie als
Ihr ergebenster
Diener
Prof Dr Friedrich Nietzsche.