1872, Briefe 183–286
207. An Erwin Rohde in Kiel
<Basel,> Donnerstag, <11. April 1872 oder kurz danach>
Liebster Freund, um Deine Stimmung durch das Zauberspiel der Hoffnung etwas aufzuheitern, erzähle ich Dir, als Antwort auf Deinen Brief, zuerst, in welche Combination ich neuerdings, allerdings erst in Gedanken, Dich und Deinen Beruf, alias Lebensunterhalt gebracht habe. Ich denke nämlich darüber nach, wie Du um Michaeli in alle Ehren und Emolumente meiner Basler Professur, als mein vollständiger Nachfolger, eintreten kannst. Ich selbst nämlich will den nächsten Winter herumziehn im deutschen Vaterland dh. eingeladen von den Wagnervereinen der größeren Städte, um Vorträge über die Nibelungen-bühnenfestspiele zu halten — es muß eben Jeder thun, was seine Pflicht ist und, im Collisionsfalle, was seine Pflicht mehr ist. Habe ich aber auf diese Art einen Winter mich von der Universität getrennt, so benutze ich gewiß das einmal eingetretene Vacuum, um 2 Jahre lang nach dem Süden zu gehen. Zum Zwecke dieses Unternehmens lege ich meine Stellung hier nieder, so daß Du dann in jeder Beziehung mein Nachfolger wirst; wenn die Universität mir aber wohl will, so denke ich, wird sie mir den Titel und die Würde eines ordentl. Professors unbeschadet der davon gänzlich unabhängigen, Dir zugedachten Professur belassen, natürlich nicht den Gehalt. Bist Du geneigt, Dich mit dieser Combination vertraut zu machen? — Wie gesagt, betrachte es als einen Entwurf, über den wir uns verständigen wollen. Ich selbst denke mit dem letzten Reste meines Vermögens, vielleicht 2000 Thaler noch 2½ Jahr existiren zu können — und was nachher wird, das weiß Gott, geht mich auch zunächst nichts an. Himmlisches Wohlgefühl, nicht als Stipendiat nach dem Süden zu wandern, die Augen rückwärts gedreht nach einem kaiserl. Ministerium! Aber vor Allem muß ich wissen, ob Du nöthigenfalls bereit bist. Die Entscheidung müßte Ende Mai getroffen werden. —
Herzliche und große Freude hast Du mir gemacht, als Du an Wagner den Brief abschicktest. Wir haben nun einmal für das Beste und Edelste, was wir wollen, keinen anderen Patronus: weshalb ihm von Rechtswegen alles als Opfergabe zukommt, was auf unserem eignen Ackerlande wächst. Wenn ich etwas schwer vermisse, so ist es gerade deshalb Deine Nähe: wir sollten immer zusammen uns an ihm erbauen und in der Erkenntniß seiner Werke fortschreiten. Das Nibelungenwerk taucht immer mehr vor meinen erstaunten Blicken auf — als etwas Unglaublich-Gigantisches und Vollendetes, und ohne Gleichen. Aber es ist schwer, solchen Werken sich zu nähern: weshalb der, der viel davon empfunden und verstanden zu haben glaubt, davon auch reden muß — daher mein Winterplan.
Zu Deinem Sendschreiben an W. wünsche ich Dir frohes und glückliches Gelingen. Denke, ich bitte Dich, daran, in welcher Zeit Du W. das erweist: später kann ich Dir einmal deutlich machen, in wie fern es einer der complizirtesten und aufregendsten Momente war, in dem jedes wahre Zeichen von Verständniß und Theilnahme lindernder Balsam ist.
Ich lege eine Anzahl von Briefen bei, von Romundt, von v. Baligand (Kammerherr des K<önigs> v B<ayern>) von Franz Liszt, von Gustav Krug, von Prof. Hagen in Bern, von Schuré in Florenz, von der Gräfin Krokow, von Fr. Mathilde M<aier>. Dann könnte ich noch erzählen von einem sehr liebenswürdigen Briefe der Ministerin von Schleinitz aus Berlin, von Fr. von Meysenbuch in Florenz usw. Hans von Bülow, den ich noch gar nicht kannte, hat mich hier besucht und bei mir angefragt, ob er mir seine Übersetzung von Leopardi (das Resultat seiner italiänischen Mußestunden) widmen dürfe. Der ist so begeistert von meinem Buche, daß er mit zahlreichen Exemplaren davon herumreist, um sie zu verschenken. Es giebt bald eine zweite Auflage. Übrigens giebt es noch keine öffentliche Anzeige, nicht einmal eine Buchhändleranzeige — es ist ein Erfolg im Schooß der Familie. Dohm, der Redakteur des Kladderadatsch ist auch ein „Begeisterter“ und wird darüber schreiben — vielleicht als der Erste: was sich rührend und ridikül ausnehmen würde. — Nur unsere verrückten Philologen schweigen — der Brief von Ritschl war doch sehr wenig aufrichtig und dazu recht unbedeutend.
Windisch hat sich in Leipzig mit Roscher’s Tochter verlobt — ei welch eine schöne Adscendenz!
Gersdorff ist treu, thätig und gut wie immer und ist jetzt in der nützlichsten und anhaltenden Correspondenz mit Tribschen. — Übrigens, mein lieber guter Freund, ist Baireuth am 22 Mai für uns nicht zu umgehen, nach Schicksalsschluß! Und im Herbst wirst Du ja, wenn meine Combination gelingt, Pfründner! Also komme, vorher aber schreibe mir. Zu allem, was Du unternimmst, nimm den Segen Deines Freundes, der Dich liebt und Dir herzlich zugethan ist.
Frd Nietzsche.