1872, Briefe 183–286
194. An Friedrich Ritschl in Leipzig
Basel 30 Jan. 72.
Verehrtester Herr Geheimrath,
Sie werden mir mein Erstaunen nicht verargen, dass ich von Ihnen auch kein Wörtchen über mein jüngst erschienenes Buch zu hören bekomme, und hoffentlich auch meine Offenheit nicht, mit der ich Ihnen dies Erstaunen ausdrücke. Denn dieses Buch ist doch etwas von der Art eines Manifestes und fordert doch am wenigsten zum Schweigen auf. Vielleicht wundern Sie Sich, wenn ich Ihnen sage, welchen Eindruck ich etwa bei Ihnen, mein verehrter Lehrer, voraussetzte: ich dachte, wenn Ihnen irgend etwas Hoffnungsvolles in Ihrem Leben begegnet sei, so möchte es dieses Buch sein, hoffnungsvoll für unsere Altertumswissenschaft, hoffnungsvoll für das deutsche Wesen, wenn auch eine Anzahl Individuen daran zu Grunde gehen sollte. Denn die practische Consequenz meiner Ansichten werde ich wenigstens nicht schuldig bleiben, und Sie errathen etwas davon, wenn ich Ihnen mittheile, dass ich hier öffentliche Vorträge „über die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ halte. Von persönlichen Absichten und Vorsichten fühle ich mich — wie Sie mir glauben werden, so ziemlich frei, und weil ich nichts für mich suche, hoffe ich etwas für Andere zu leisten. Mir liegt vor allem daran, mich der jüngeren Generation der Philologen zu bemächtigen und ich hielte es für ein schmähliches Zeichen, wenn mir dies nicht gelänge. — Nun beunruhigt mich etwas Ihr Schweigen. Nicht als ob ich einen Augenblick an Ihrer Teilnahme für mich gezweifelt hätte; von der bin ich ein für alle Mal überzeugt — wohl aber könnte ich mir gerade von dieser Theilnahme aus eine gleichsam persönliche Besorgniss um mich erklären. Diese zu zerstreuen schreibe ich Ihnen. —
Das Register zum rhein. Mus. habe ich bekommen. Haben Sie vielleicht meiner Schwester ein Exemplar geschickt?
Eine Anfrage, ob ich einen event. Ruf nach Greifswald annehmen würde, habe ich ohne einen Augenblick des Zögerns verneinend beantwortet.
Bleiben Sie mir, mein verehrter Herr Geheimrath, zusammen mit Ihrer Frau Gemahlin gewogen und seien Sie herzlich gegrüsst von
Ihrem
Friedr Nietzsche.