1872, Briefe 183–286
185. An Richard Wagner in Tribschen
Basel 2 Januar 1872.
Verehrtester Meister,
endlich kommt mein Neujahrswunsch und meine Weihnachtsgabe: freilich sehr spät, doch ohne Fritzschens und meine Schuld. Die mitunter unberechenbare Post gehört aber zu „des Geschickes Mächten“, mit denen kein ewger Bund zu flechten ist. Am 29 Dec. ist bereits das Paket von Leipzig abgegangen, und stündlich habe ich bisjetzt auf seine Ankunft gewartet, um Ihnen mit ihm zusammen meine Glück- und Segenswünsche zuschicken zu können.
Möge meine Schrift wenigstens in irgend einem Grade der Theilnahme entsprechen, die Sie ihrer Genesis bisjetzt, wirklich zu meiner Beschämung, zugewandt haben. Und wenn ich selbst meine, in der Hauptsache Recht zu haben, so heisst das nur so viel, dass Sie mit Ihrer Kunst in Ewigkeit Recht haben müssen. Auf jeder Seite werden Sie finden, dass ich Ihnen nur zu danken suche, für Alles das, was Sie mir gegeben haben: und nur der Zweifel beschleicht mich, ob ich immer recht empfangen habe, was Sie mir gaben. Vielleicht werde ich manches später einmal besser machen können: und „später“ nenne ich hier die Zeit der „Erfüllung“, die Baireuther Culturperiode. Inzwischen fühle ich mit Stolz dass ich jetzt gekennzeichnet bin und dass man mich jetzt immer in einer Beziehung zu Ihnen nennen wird. Meinen Philologen gnade Gott, wenn sie jetzt nichts lernen wollen.
Ich werde beglückt sein, verehrtester Meister, wenn Sie diese Schrift, am Beginn des neuen Jahres, als ein gutes und freundliches Wahrzeichen entgegen nehmen wollen.
In kurzer Zeit werde ich für Sie und Ihre Frau Gemahlin gebundene Exemplare nachschicken.
Unter Segenswünschen für Sie und Ihr Haus und mit heissem Danke für Ihre Liebe bin ich, der ich war und sein werde
Ihr getreuer
Friedrich Nietzsche