1872, Briefe 183–286
268. An Hans von Bülow in München (Entwurf)
<Basel, 29. Oktober oder kurz vorher>
Nun Gott sei Dank daß ich das und gerade das von Ihnen hören muß. Ich weiß schon einen wie unbehaglichen Moment ich Ihnen gemacht habe dafür sage ich Ihnen, wie sehr Sie mir genützt haben. Denken Sie daß mir, in meiner musikal. Selbstzucht, allmählich jede Zucht abhanden gekommen ist, daß ich nie von einem Musiker ein Urtheil über meine Musik hörte und daß ich wahrhaft glücklich, auf eine so einfache Art über das Wesen meiner allerletzten Compositionsperiode aufgeklärt zu werden. Denn leider muß ich es gestehn — mache ich Musik eigner Fabrik von Kindheit an, besitze die Theorie durch Studium Albrechtberger’s, habe Fugen en masse geschrieben und bin des reinen Stils — bis zu einem gewissen Grad der Reinheit fähig. Dagegen überkam mich mitunter ein so barbarisch-excessives Gelüst, eine Mischung von Trotz und Ironie daß ich ebenso wenig wie Sie scharf empfinden kann, was in der letzten Musik als Ernst als Karikatur als Hohn gemeint. Meinem nächsten Hausgenossen (o der Arme!) habe ich es als Pamphlet auf die Programmmusik zum Besten gegeben. Und die ursprüngliche Charakterbezeichnung der Stimmung war cannibalido. Dabei ist mir nun leider klar, daß das Ganze sammt dieser Mischung von Pathos und Bosheit, einer wirklichen Stimmung absolut entsprach und daß ich an der Niederschrift ein Vergnügen empfand, wie bei nichts Früherem. Es steht demnach recht traurig um meine Musik und noch mehr um meine Stimmungen. Wie bezeichnet man einen Zustand, in dem Lust Verachtung Übermuth Erhabenheit durch einander gerathen sind? — Hier und da verfalle ich in dies gefährliche mondsüchtige Gebiet. — Dabei bin ich — das glauben Sie mir — unendlich weit entfernt, von dieser halb psychiatrischen Musikerregung aus, Wagnersche Musik zu beurtheilen und zu verehren. Von meiner Musik weiß ich nur eins daß ich damit Herr über eine Stimmung werde, die, ungestillt, vielleicht schädlicher ist. An jener verehre ich gerade diese höchste Nothwendigkeit — und wo ich sie als mangelhafter Musiker nicht begreife setze ich sie gläubig voraus. Was mir aber an der letzten Musik besonders vergnüglich war, das war gerade, bei dem tollsten Überschwang eine gewisse Karikatur jener Nothwendigkeit. Und gerade diese verzweifelte Contrapunktik muß mein Gefühl in dem Grade verwirrt haben daß ich absolut urtheilslos geworden war. Und in dieser Noth dachte ich mitunter selbst besser von dieser Musik — ein höchst bedauerlicher Zustand, aus dem Sie mich jetzt gerettet haben. Haben Sie Dank! Das ist also keine Musik? Da bin ich recht glücklich daran, da brauche ich mich gar nicht mehr mit dieser Art des otium cum odio, mit dieser recht odiosen Art meines Zeitvertreibs abzugeben. Mir liegt an der Wahrheit: Sie wissen es ist angenehmer sie zu hören als sie zu sagen. Da bin ich also doppelt wieder in Ihrer Schuld. — Aber ich bitte Sie nur um eins, machen Sie für meine Sünde nicht den Tristan verantwortlich. Nach dem Anhören des Tristan hätte ich gewiß solche Musik nicht mehr concipirt — er heilt mich für lange Zeit von meiner Musik. Daß ich ihn wieder hören könnte!
Dann will ich aber doch einen Versuch machen, eine musikal. Gesundcur vorzunehmen: und viell. bleibe ich wenn ich in Ihrer Ausgabe Beethoven Sonaten studiere, unter ihrer geistigen Aufsicht und Leitung. Im Übrigen ist mir das Ganze eine höchst belehrende Erfahrung — die Erziehungsfrage, die mich auf anderen Gebieten beschäftigt, wird für mich einmal, im Bereich der Kunst, mit bes<onderer> Stärke aufgeworfen. Welchen gräßlichen Verirrungen ist jetzt der Vereinzelte ausgesetzt!