1872, Briefe 183–286
236. An Erwin Rohde in Kiel
<Basel, 7. Juli 1872> Sonntag.
Mein lieber Freund,
inzwischen habe ich einen Versuch gemacht, für Dein Sendschreiben die Teubnersche Officin zu gewinnen — durch Ritschl, dessen aufrichtiger Neigung ich, bei aller Spannung der Situation, sicher bin. Ich bin aber abgefallen und schicke Dir den Brief R.’s zu, als einen Beweis, wie principiell bereits alle unsre Schritte gedeutet werden. Obwohl ich in einem ziemlich geschützten Exil lebe, dringen doch von Zeit zu Zeit Stimmen der allerfrechsten philologischen Überhebung und Mißachtung an mich heran; von der Zunft bin ich, wie es scheint, zum Tode verurtheilt. Ob sie aber stark genug ist, wirklich zu tödten — das bezweifle ich.
Neulich wollten wir (Gersdorff und ich) Dir von München aus telegraphiren. Der „Tristan“! Aber wir dachten, daß der Ausdruck unserer begeisterten Freude vielleicht in einer sehr schmerzlichen Wendung zu Dir gelangen werde und unterließen es. Ach, mein lieber lieber Freund! Vom „Tristan“ ist nicht zu sprechen! — In der ersten Hälfte des August ist eine Wiederholung, sodann, zum Jubiläum der Universität, Lohengrin und — vielleicht noch Meistersinger.
Hast Du denn ein paar Abzüge Deiner herrlichen Anzeige erhalten? Sie ist sehr verbreitet worden — auch die „Bösen“ habe ich, aus Hohn, damit bedacht. Niemand weiß daß die Versendung von mir ausgeht; denn Gersdorff hat alles, von Tegernsee aus, besorgt. Haupt, Curtius, Zarncke etc. — alle φίλτατοι sind bedacht! Gott segne sie!
Freund Romundt ist, seit mehreren Wochen hier eingetroffen — als unser definitiver Privatdozent für Philosophie! Sehr freundliche Aufnahme ist ihm zu Theil geworden. Im nächsten Semester wird er über „Materialismus“ lesen und ein Repetitorium über Gesch. der Philos. einrichten. Man unterstützt ihn und er ist recht zufrieden. Seine Schrift „Kant und Empedocles“ erscheint hier bei Georg im Verlag.
In München berichtete mir Bülow von einer französ. Übersetzung meines Buches. Eine begeisterte Dame, die früher Schumanns Schriften ins Franz. übersetzt hat, Mad. Diodati (Villa Diodati bei Genf, Byrons Villa) ist in voller Thätigkeit.
Ich habe einen ganzen Kreis von Florentiner Freunden kennen gelernt.
Da ich einmal beim Briefeschicken bin, will ich, als Gegengift gegen Ritschl’s Brief, doch Wagner’s letzten Brief beilegen. Lies ihn! Es wird Einem seltsam dabei ums Herz.
Wie geht Dirs, liebster Freund? Bist Du gesund und mäßig vergnügt?
Ich bin immer so glücklich, wenn ich an Dich denke. Wir wollen recht ruhig sein und uns von den Wellen nicht gar zu heftig bespritzen lassen. Das, was wir wollen, ist gut — und geht es Dir nicht auch so? Mitten in diesem „Wollen“ darin, in der Conception und dem Ausbau unserer Welt, ist mirs als ob es, außer uns (im Sinne des Wagnerschen „Wir“) gar Niemanden gäbe. Die stumpfe philologische Rasselbande zieht dann an mir wie eine Schaar Bleisoldaten vorbei.
Lebewohl, mein guter lieber Freund. Ich möchte gerne wissen, was Du treibst und ob Du guter Dinge bist.
Sei herzlich gegrüßt von
Deinem
Friedr Nietzsche
Lieber Freund, jetzt nehmen wir Fritzsch. Nicht wahr? Aber glaube nur dies: es hat gar keine solche Eile mit dem bewußten Sendschreiben! Mach Dirs behaglich — aber behandle die Philologen nur im hohen, höchsten Stile!!