1885, Briefe 568–654
652. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Adresse von nun an Nice (France), rue St. François de Paule 26 II <10. Dezember 1885>
Meine liebe Mutter
heute möchte ich, außer meinem Danke für Deinen herzlichen Brief, bei Dir von wegen Weihnachtens anfragen: ob Du etwas weißt, womit unsre Lisbeth und ihr Gatte bei diesem letzten deutschen Weihnachten erfreut werden könnten? Bitte, beschaffe es in meinem Namen und Auftrage: und was Geld betrifft, so gehe zu Herrn Kürbitz, der giebt es Dir (ich will ihm einen kleinen Brief schreiben, namentlich auch in Hinsicht auf die Grabplatte, deren Kosten ich ganz auf mich zu nehmen gedenke, in Anbetracht erstens, daß ich als Sohn meines Vaters und meiner Mutter darauf das Vorrecht habe, und zweitens, daß es gerade für Dich keine Zeit ist, Geld zu außerordentlichen Dingen aufzubringen. Wenn es Dir so gefällig ist, kannst Du ja meine Intention zu Gunsten des bevorstehenden Festes auslegen und darin ein wohlgemeintes kleines Geschenk meinerseits erblicken)
Bitte, sage auch unsrer Lisbeth, daß ihr Gedanke betreffs Onkel Bernhard und die kleinen Löffelchen mir sehr gefiele, und daß sie ja dazu thun möge, was noth thut, mir zu Gefallen.
Das grüne Buch wird jetzt von Frau Pfarrer Hamann gelesen; sie ist voller Auszeichnung für die große Wahrhaftigkeit der Darstellung und versteht die Lage und Aufgabe aus einer Menge ähnlicher Erfahrungen heraus, welche sie innerhalb 50 Jahren in Amerika gemacht hat. Ich gestehe, daß sie mir große Scrupel in den Kopf gesetzt hat (sie meint, die Schwierigkeiten würden für eine Frau kaum überwindlich sein, selbst bei der stärksten Energie und der ausdauerndsten Gesundheit: — Männer könnten sich die Entbehrung, welche ein Weib in solchen Fällen durchzumachen habe, nicht deutlich vorstellen. Auch hält sie, so lange es nicht bessere kaufmännische Zustände, bessere Wege und bessere Regierungsbeamte giebt, alle Arbeit für aussichtslos, mindestens müsse die erste Generation sich als geopfert betrachten. Genug, sie nimmt einen Antheil an der Sache, bei dem nichts Erbauliches herauskommt: weshalb ich Dich bitten möchte, ihre Ansichten strengstens verschwiegen zu halten. Es ist dies selber der Wunsch der alten Frau, sie sieht, daß es zu spät ist, und daß zu späte Warnungen immer nur Malheur anrichten.)
Ich selber habe mich für 4 Monate hier festgesetzt und contraktlich verpflichtet. Das Zimmer, welches ich jetzt bewohne, ist, so lange ich lebe, das erste Zimmer, in dem ich ohne Überwindung und Widerwillen lebe — es entspricht den Haupterfordernissen meiner Gesundheit und meines Geschmacks. Es ist 20 Fuß lang, 14 Fuß breit und 14 Fuß hoch; das Fenster 8 Fuß hoch und 3 Fuß breit; dunkelgelb tapezirt, dunkler Fußteppich, das Bett drei Mal so groß als meins in Naumburg. Nichts darin erinnert an Eleganz, Luxus bric-à-brac und sonstigen weiblichen Zubehör; lauter nothwendige Dinge stehen darin, darunter auch ein ganz großer Arbeitstisch und ein „Voltaire“ (ein bequemer Gelehrten-Lehnstuhl, wie er mir in Deutschland noch nicht vorgekommen ist) Die Aussicht geht auf herrliche Bäume (Eucalyptus der größten Art) das blaue Meer und das Gebirge, vor Allem aber auf den leuchtenden Himmel. Die Sonne kommt Nachmittags, wie sie allein in Hinsicht auf meine Augen kommen darf. —
Ich bin betrübt über meinen vortrefflichen maëstro Köselitz. Es ist ihm auch in Wien schlecht gegangen; nun will er über Dresden Annaberg nach Carlsruhe und dort einen Versuch machen, seine Oper anzubringen. Es wäre mir sehr lieb, wenn Du ihn einlüdest, auf seiner Reise durch Naumburg zu kommen, und wenn es möglich wäre, ihm eine Ehre zu erweisen. Es ist der erste lebende Musiker, — aber die Welt braucht Zeit, sich für etwas Neues zu begeistern, wenn es zugleich etwas Gutes und Feines ist. Adressiere einfach: Herrn Heinrich Köselitz, Annaberg (Sachsen) Ich will, daß er nach Nizza kommt. —
Herzlich grüßend
Dein Sohn.
Sprich dem Lama meinen besten Dank für ihren Brief aus.