1885, Briefe 568–654
583. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Entwurf)
<Nizza, Mitte März 1885>
Als ich deinen Brief las, kam mir wieder einmal zum Bewußtsein, weshalb mich einige feinere Köpfe in Deutschland für irrsinnig halten oder gar erzählen, ich sei im Irrenhaus gestorben. Ich bin viel zu stolz als je zu glauben, daß ein Mensch mich lieben könne: dies würde nämlich voraussetzen, daß er wisse, wer ich bin. Ebensowenig glaube ich daran, daß ich je Jemanden lieben werde: das würde voraussetzen, daß ich — einmal — Wunder über Wunder! — einen Menschen meines Ranges fände — Vergiß nicht, daß ich solche Wesen wie Rich<ard> W<agner> oder A. Schopenhauer eben so sehr verachte als tief bedaure und daß ich den Stifter des Christenthums als oberflächlich empfinde im Vergleich mit mir ich habe sie alle geliebt, als ich noch nicht begriff, was der Mensch ist.
Es gehört zu den Räthseln, über die ich einige Male nachgedacht habe, wie es möglich ist, daß wir blutsverwandt sind. — Was mich beschäftigt, bekümmert, erhebt, dafür habe ich nie einen Mitwisser und Freund gehabt! es ist Schade, daß es keinen Gott giebt, damit es doch Einer wüßte.. — So lange ich gesund bin, habe ich guten Humor genug, um meine Rolle zu spielen und mich vor aller Welt darunter zu verstecken zb. als Basler Professor. Leider bin ich sehr viel krank, und dann hasse ich die Menschen, welche ich kennen gelernt habe, unsäglich, mich eingerechnet. —
Meine liebe Schwester, das Wort unter uns — und Du darfst den Brief hinterdrein verbrennen. Wenn ich nicht ein gut Stück von einem Schauspieler wäre, so hielte ich’s nicht eine Stunde aus, zu leben.
Für Menschen, wie ich bin, giebt es keine Ehe: es sei denn im Stile unseres Goethe. Ich denke nicht daran, je geliebt zu werden.
Wenn ich Dir sehr gezürnt habe, so ist es, weil Du mich zwangst, die letzten M<enschen> aufzu<ge>ben, mit welchen ich ohne Tartüfferie sprechen konnte. Jetzt — bin ich allein.
mit denen ich ohne Maske von den Dingen reden konnte, die mich interessiren. Was sie von mir dachten und hielten, war mir sehr gleichgültig. — Jetzt bin ich allein.
Verbirg diesen Brief unserer Mutter und — — —
Es scheint mir, daß ein Mensch, bei dem allerbesten Willen, unsäglich viel Unheil anstiften kann, wenn er unbescheiden genug ist, denen nützen zu wollen, deren Geist und Wille ihm verborgen ist.
Um ein Beispiel zu nehmen: die gute Malvida hat ihr ganzes Leben nichts als Unheil angestiftet, Dank jener eben genannten Unbescheidenheit.
Sei mir eines solchen Briefs wegen nicht böse! Es liegt mehr Artigkeit darin, als wenn ich wie gewohnt, eine Komödie spiele.
Du weißt, daß ich von den Franzosen dieses Jahrhunderts Henri Beyle (Stendhal) am liebsten habe. Von seinen Schülern ist bei weitem der einflußreichste Taine: um Dir einen Begriff von ihm zu geben, sende ich Dir seinen M. Graindorge, ein Buch, das für meinen Geschmack etwas zu harmlos ist, aber vielleicht um so mehr geeignet ist, dir einen günstigen Begriff von seinem Verfasser zu geben.