1885, Briefe 568–654
606. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Sils-Maria Freitag.<26. Juni 1885>
Meine liebe Mutter,
Dein Brief mit den vielen hübschen kleinen Sachen hat mir großes Vergnügen gemacht; er gab mir eine gute Vorstellung von dem Befinden und neuen Leben unsrer Lisbeth. Inzwischen habe ich selber ein paar Worte an sie und ihren Gatten geschrieben; hoffentlich ist’s freundlich aufgenommen worden — ich gestehe, daß ich Schwierigkeiten habe, mich mit dieser Thatsache von Ehe und Auswanderung zu vertragen. Zuletzt bin ich nicht nur in diesem Falle, sondern bei Allem beinahe, was die Menschen gegenwärtig treiben, verwundert, und außer Stande, dazu „Ja“ oder „Nein“ zu sagen. Mögen Sie es „besser wissen“, was ihnen gut thut! — Dieser Sommer ist bisjetzt der heißeste, dessen man sich im Engadin erinnert: was mich für Euer Wohlbefinden in den Ebenen fürchten macht. Ich vertrage keine Hitze mehr, nachdem ich mir Jahre lang eine Art von mildem Winter fast für alle Jahreszeiten hergerichtet habe. Sils-Maria ist vielleicht zum letzten Male mein Aufenthalts-Ort: es fehlt mir an Schatten, und im Hause fehlt Alles das, was ich gern habe: ein hohes Zimmer, ein bequemer Lehnstuhl, Licht ohne direkte Sonne und ebenso ohne Reflex-licht weißer Häuserwände: — ich habe von Allem was ich brauche, das extreme Gegentheil. Mit dem Magen steht es ein wenig besser, seit ich nur noch zartes Fleisch und Milchreis zu mir nehme, und ich hoffe es mit dieser Diät noch vorwärts zu bringen. Sehr wohl that mir bisher die Nähe einer trefflichen alten Dame, Frau Röder-Wiederhold aus Zürich; bisher habe ich fast jeden Tag ihr 3 Stunden diktirt. Aber ihre Zeit ist nun bald vorbei, und dann bin ich wieder mir selber überlassen. Mit den Augen verhalte ich mich ähnlich, wie Du es mir anräthst. Übrigens hatte ich eine große Gesammt-Consultation über meine Gesundheit mit einem alten Arzte und Freunde des bekannten Dr. Schweninger aus München (der, wie Du wissen wirst, der Arzt Bismarck’s ist) Sein Scharfblick war, nach 1 1/2 tägigem Zusammensein mit mir, für mich überraschend; seine Vorschläge der Kur (mit Beiseitelassung aller Medizin) haben sich aber nicht bewährt. In Betreff der Nahrung hat er mir geradezu genau dasselbe verboten, was ich mir, auf Grund langer Beobachtung jetzt selber verbiete (und ohne daß er von Letzterem eine Ahnung hatte), nämlich Kartoffeln, Kohl, Blumenkohl, Essig, Senf, Pfeffer, Schwarzbrod, Zwiebel, Saucen, alle Suppen, Würste, Käse, alle Liqueure und starken Alcoholica. Ich bin im Grunde sehr einfach zu ernähren: nur gerade in Deutschland nicht, wo man nicht versteht, mir mein Fleisch auf dem Rost zu braten. Eier, Reis, Gries, Milch usw., vor Allem aber gutes Fleisch.
Verzeihung für diese Details. — Einstweilen glaube ich nicht um Nizza herumzukommen, es ist der einzige Ort, der mir den Stoffwechsel so anregt, daß ich mich im Kopfe frei fühle; das Umgekehrte geschieht an Orten mit Luft-Feuchtigkeit und viel Gewölk. Deshalb ist Deutschland im Ganzen, und unser Naumburg im Besonderen, mir unzuträglich. Nizza und Oberengadin sind vielleicht im ganzen Europa die stimulantesten Climata, Dank der trocknen Luft. Warum ist mein System so träge, daß es immer nur mit der größten Noth arbeitet? In Venedig habe ich zuletzt auch die leichteste Mahlzeit nicht mehr zu Ende bringen (verdauen) können. Andrerseits braucht ein Gehirn, wie das meine, eine sehr starke Ernährung: — und ich habe Jahrelang an unzureichender Ernährung gelitten, weil ungünstiges Clima (wie das Basel’s) mir die Schwierigkeit vermehrte. Die herzlichsten Grüße und Wünsche an Dich und Deine „Nächsten“!
Dein F.
Bitte, etwas Honig! Eigentlich gehört’s jetzt zur Tradition meines Aufenthalts hierselbst. Und ein Paar waschlederne gelbe Handschuhe, wie ich sie gern habe!
Ich erwarte die alte Russin Excellenz von Mansuroff, auch meine zwei Engländerinnen wieder. General Simon und Tochter sind in der Nähe von St. Moritz.
Bitte etwas Hübsches für die kleine Adrienne!