1885, Briefe 568–654
571a. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Nizza, Januar 1885>
Meine liebe Schwester,
ich antworte sofort auf Deine besorgte Karte, um Dich zu beruhigen. Es geht gerade heute nicht gut, ein schlimmes Wetter zieht seit gestern Abend herauf. Sonst aber hat sich mein Zustand in den zwei letzten Wochen verbessert, abgerechnet die Augen: welche ich nicht in dem Maaße schone als ich sollte. Aber ohne meine Arbeiten ist das Leben hier unerträglich. Nizza ist kein Spaziergehe-Ort für mich, die Landschaft widersteht mir, ebenso wie der Mensch in dieser Landschaft (ich meine den Fremden eben[so]sehr als die Franzosen von heute). Zuletzt ist ein Wagen- und Karren-lärm in Nizza und weit und breit herum, wie ich es mir anderswo gar nicht vorstellen kann. — Im Geiste bin ich viel in Venedig: das wäre für mich der rechte Ort, wenn er nicht gerade die umgekehrten klimatischen Verhältnisse besäße. — Genua hat sich, nachträglich, nach vielen gesammelten meteorologischen Daten, als eine glänzende und merkwürdige Wahl meines Instinkts herausgestellt: worüber viel zu sagen wäre. Es ist immer noch nicht unmöglich, daß ich Genua wieder aufsuche: da die Bewohnbarkeit meiner Halbinsel St. Jean für mich allein nicht Leicht moglich ist. Es müßte denn sein, daß ich eine ausgezeichnete Wirthschafterin und Köchin fände. An Villen, die ganz oder theilveise vermiethbar sind, fehlt es dort nicht. Für nächsten Winter übrigens glaube ich daß die beiden Sarasins, meine alten Schüler, die jetzt in Ceylon sind, zurückkommen und sich bei ihrem Aquarium in Villefranche (1/2 Stunde vor Beaulieu und St. Jean) niederlassen, zusammen mit dem Würzburger Professor Semper; da bekomme ich Naturforscher nach meinem Geschmack in die Nähe von St. Jean. Auch wäre ein Zusammenleben zu Dreien (nämlich Köselitz, Lansky und ich) in einer solchen kleinen Villa ausführbar, selbst pekuniär. Wenn Jeder für sein Theil jeden Tag auf 5 frs. rechnet, so könnten wir mit diesen täglichen 15 frs. alles haben, auch die Wirthschafterin. — Noch rationeller wäre vielleicht eine gute wirtschaftliche Gattin für mich, welche ihre Aufgabe darin sehe, mich in dem Zustand zu erhalten, in dem ich meiner überschweren Lebens-Aufgabe am besten nachkomme. Aber alles, was ich von Weibern kennen gelernt habe, ist mit, auf diese Mission angesehn, als unzureichend erschienen: so daß ich eigentlich in diesem Punkte keinen Glauben mehr habe. Sie müßte jung sein, sehr heiter, sehr rüstig und wenig oder gar nicht „gebildet“: und außerdem eine gute Wirtschafterin aus eigener Neigung.
Voila! hier hast Du zu lachen! In Betreff des Geburtstags bin ich sehr einverstanden: die Bismarck-Fortsetzung aber jetzt nicht! sondern, vielleicht s’il vous plait, zum 15. Oktober!
Von Herzen Dein
F.