1885, Briefe 568–654
587. An Malwida von Meysenbug in Rom
<Nizza,> Donnerstag <26. März 1885>
Verehrte Freundin,
Sie wundern sich darüber, daß ich Ihnen gar nicht mehr schreibe? Ich wundere mich gleichfalls darüber; aber immer, wenn ich mich dazu anschickte, legte ich endlich die Feder wieder weg. Wüßte ich die Gründe dafür genau, so würde ich mich nicht mehr wundern, aber — vielleicht betrüben.
Es gieng mir nicht gut, den ganzen Winter (die trockne Luft fehlte mir, dank den Abnormitäten dieses Jahrs), und als Ihr gütiger Brief zu mir kam, lag ich zu Bett, sehr leidend. Aber das ist eine alte Geschichte, und im Grunde bin ich’s satt, Briefe über meine Gesundheit zu schreiben. „Helfen“ — wer könnte mir helfen! Ich selber bin bei weitem mein bester Arzt. Und das Positivum, daß ich’s aushalte und meinen Willen durchsetze unter viel Widerständen, ist mein Beweis dafür.
Es war den Winter über ein Deutscher um mich, der mich „verehrt“: ich danke dem Himmel, daß er fort ist! Er langweilte mich, und ich war genöthigt, so Vieles vor ihm zu verschweigen. Oh über die moralische Tartüfferie aller dieser lieben Deutschen! Wenn Sie mir einen Abbé Galiani in Rom versprechen könnten! Das ist ein Mensch nach meinem Geschmack. Ebenso Stendhal. — Was Musik angeht: so habe ich letzten Herbst gewissenhaft und neugierig die Probe gemacht, wie ich jetzt zu R. Wagner’s Musik stehe. Was mir diese wolkige, schwüle, vor allem schauspielerische und prätentiöse Musik zuwider ist! So sehr zuwider als — als — als — tausend Dinge, zum Beispiel Schopenhauer’s Philosophie. Das ist Musik eines mißrathenen Musikers und Menschen, aber eines großen Schauspielers — darauf will ich schwören. Da lobe ich mir die tapfere und unschuldige Musik meines Schülers und Freundes Peter Gast, eines ächten Musikers: der mag einmal für seinen Theil dafür sorgen, daß die Herrn Schauspieler und Schein-Genies nicht mehr zu lange den Geschmack verderben. — Der arme Stein! Er hält R. Wagner sogar für einen Philosophen!
Warum rede ich davon? Es ist nur, daß ich Ihnen irgend ein Beispiel gebe. Es ist der Humor meiner Lage, daß ich verwechselt werde — mit dem ehemaligen Basler Professor Herrn Dr. Friedrich Nietzsche. Zum Teufel auch! Was geht mich dieser Herr an! —
Sehen Sie, meine verehrte Freundin, das ist ein Brief „unter vier Augen“.
Ende dieses Monats kommt Herr Dr. Förster nach Naumburg, von der Liebe beschleunigt, nämlich um einen Monat früher als es die Vernunft seiner Land-Studien wollte. Was ich froh bin über diese Wendung! Und wie ich hoffe, damit für die Zukunft einer ganz lebensgefährlichen Art von Folterung enthoben zu sein, welche diese letzten Jahre über mich verhängt war! —
Geben Sie mir doch die Adresse jenes Klosters! Es könnte sein, daß ich vielleicht im Herbst einmal den Versuch mit Rom mache, vorausgesetzt, daß ich incognito dort leben kann, und meiner Einsiedler-Natur nichts Widernatürliches zugemuthet wird.
Sie wissen doch, wie sehr ich Ihnen zugethan bin?
Ihr
N.
Ich liebe diese Küste nicht, ich verachte Nizza, aber im Winter hat es die trockenste Luft in Europa.