1885, Briefe 568–654
650. An Heinrich Köselitz in Wien
Adresse: Nice, rue St. François de Paule 26, II <6. Dezember 1885>
Lieber Freund,
eben kommt Ihr guter Brief mir zu Händen: ich weiß nichts Besseres zu thun, als sofort darauf zu „antworten“ — so groß ist meine Freude über Ihre Geduld und Ihr Ausharren in Wien. Gesetzt, daß Alles zuletzt umsonst war, und der Norden vorläufig noch nichts von Ihrem „Süden“ wissen und hören will: so haben Sie nicht nur eine Schuldigkeit abgethan — es scheint mir, Sie haben selbst dann mehr erreicht. Sie dürfen sich für eine gute Zeit wieder die ganze Frage von „Angebot und Nachfrage“ aus dem Kopfe schlagen, und, mit gutem Gewissen, wieder in jenen himmlischen Abgrund der Einsamkeit des Schaffenden stürzen, in dem Sie gelebt haben, — in dem wir leben müssen, in dem, zuletzt, wir allein leben können! Ich habe es, mit meinen zwei Monaten in Deutschland, gerade so weit gebracht als ich es Ihnen hiermit wünschen möchte: es kam mir zur vollen Klarheit, daß ich dort gegenwärtig noch nichts zu suchen habe, und daß andre Aufgaben und „Aufgeber“ dort am Platze sind. Diese Klarheit hat mich nicht getrübt — Sie dürfen mir’s glauben —, umgekehrt, noch niemals bin ich in einer solchen halkyonischen Meeresstille und Unbekümmertheit in meinem Süden angelangt, so daß selbst die Leibes-Gesundheit sich verbessert zu haben scheint, trotz der greulichen Strapatzen, welche ich mir seit Sils-Maria zugemuthet habe.
Schmeitzner hat gezahlt; für eine zweite Auflage von Menschl<iches>, Allzum<enschliches>, welche ich mit viel Fleiß in diesem Sommer vorbereitet hatte, war ein ausgezeichneter Verleger gefunden: — schließlich bekam ich einen Brief Sch<meitzner>s, der mir ein für alle Mal den Glauben an die „zweiten Auflagen“ genommen hat (er verlangte, seinerseits, als Entschädigung für den Rest der ersten Auflage 2500 Mark), zugleich mit so unschicklichen Vorschlägen über die Mittel, meine Litteratur verkäuflich und um mich herum Lärm zu machen, daß ich seitdem verstummt bin und stumm bleiben will. Leider verwies er mich, hinsichtlich der angedeuteten Lärmtrommel-Mittel, auf Hrn. Widemann, der mir noch Näheres mittheilen werde: Grund genug für mich um Hrn. W<idemann> nicht zu sehn und als nicht vorhanden zu betrachten. Es ist ein Malheur, daß er diesem Schm<eitzner> so nahe steht: er ist mehreremal vermittelnd in der Prozeßsache Sch<meitzner>’s aufgetreten (sein Vater war Sch<meitzner>’s Advokat) Zuletzt ist mir noch niemals eine solche Verunglimpfung zu Theil geworden als durch seine Zusammenstellung der Namen „Dühring“ und „Zarathustra“: — an diesem Zeichen habe ich genug. Die Antisemiterei vernichtet allen feineren Geschmack, auch bei Zungen, die von Anfang an nicht belegt sind. — Daß jene zweite Auflage nicht möglich ist, thut mir wohl; ich habe bereits herausgerechnet, daß sie nicht nöthig ist, — daß vielmehr eine tiefe Stille über mich, eine Art Begrabensein (meine Schriften sind buchstäblich bei Schm<eitzner> begraben und unausgrabbar) zu den Bedingungen gehört, unter denen allein noch Etwas in mir wachsen kann. — Ich guckte eben links: blaues Meer, eine Bergkette darüber und, in der Nähe, mächtige Eucalyptus-Bäume. Der Himmel leuchtet.
Erwägen Sie recht den schönen Begriff Nizza (der Name ist griechisch und spielt auf einen Sieg an) — es ist „Cosmopolis“, wenn es eins in Europa giebt! Man ist dem feinen französischen Geiste näher (ein neuer Band psychologie contemporaine von Paul Bourget liegt neben mir) und doch wieder nicht zu nahe: meine Straße, mit dem großen italiänischen Theater, ist eine Musterstraße nach italiänischem Schema, — und die Menschen darin ächte rechte Rivieresen. Bei hellstem Himmel sieht man Corsica, sogar von meinem Fenster aus. Die Capelle in Monte Carlo wird jetzt von einem Deutschen dirigirt. Den 23. Januar singt die Lucca hier Carmen. — Trattorien, wo Sie so gut wie in der Panada, (oder vielmehr besser und billiger) essen (vortrefflicher Landwein!) giebt es gleichfalls. Wollen Sie ein Paar Stunden geben, so fehlt es nicht an Auswahl unter vornehmen Russinnen und Polinnen (diese Art herrscht hier).
Ihnen herzlich zugethan und voller Wünsche und Hoffnungen
F. N.
— Was ich darum gäbe, Ihr Septett zu hören! Was ich neidisch auf die Wiener bin! — Läßt es sich mit Carlsruhe machen, so komme ich hin. Frau Röder schrieb sehr artig von dort. (Soll ich an Mottl schreiben? —)