1885, Briefe 568–654
651. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Nice (France) rue St. François de Paule 26, II <10. Dezember 1885>
Lieber Freund,
vielleicht kommt ein an Sie nach Wien abgesandter Brief doch noch in Ihre Hände (vorausgesetzt, daß Sie daselbst, Hauptpost poste restante, Ihre Annaberger Adresse aufgegeben haben oder aufgeben wollten). Zuletzt wundere ich mich über einen geheimen „Parallelismus“ unsrer diesjährigen Erlebnisse und voyages en zigzag, bis zu dem Grade, daß ich mich fast darüber freue: — am Ende nämlich ist ein großes Gefühl von Ruhe und sanfter Gleichgültigkeit über mich gekommen, von dem ich wünsche, daß es auch Ihre Belohnung sein möchte. Es ist jetzt Niemand in Deutschland, der weiß, was ich will oder daß ich etwas will oder gar daß ich davon schon ein genügendes Theil erreicht habe, — Niemand, dem meine „Sachen“ recht von Herzen Vergnügen oder Besorgniß und Noth oder irgend Etwas machten —. Nun, vielleicht ist dies zu wissen eine unschätzbare Einsicht, mit ihr ist man den Gärten Epikurs ganz nahe gekommen, vor Allem aber sich selber, — man springt nach dieser Einsicht mit einem muthwilligen Sprunge zu sich selber zurück. Fahren wir fort, Das zu machen, was uns wohlthut, wobei wir es bei uns selber zu einem guten Gewissen bringen: der Rest ist Schweigen oder gloria, „wie es Gott will“ —.
Für eine Reihe Jahre Sicherheit zu haben und nicht gefährlichen Zufällen ausgesetzt zu sein: dazu muß Einiges erfunden und ausgedacht werden. Ich rede jetzt von Ihnen, lieber Freund. Es ist ganz in der Ordnung, daß Sie erst noch den Versuch mit Carlsruhe machen. Ob er nun gelingt oder nicht gelingt, gleich darauf haben Sie sich wieder nach einer Einsiedelei umzusehn. Der Unmuth über einen nochmaligen Mißerfolg dürfte Sie, wie ich es billig, aber schmerzlich empfinde, nach Venedig zurück treiben, als nach dem einzigen Orte, der für Sie bewiesen ist. Wenn ich mir erlaubte, Ihnen in meinen letzten Briefen Nizza anzuempfehlen, so weiß ich freilich, worin das Haupt-Hinderniß für Sie liegen dürfte, und warum Sie fürchten werden, hier nicht Eremit genug zu sein. Indeß: erwägen Sie, daß die 4 Monate, welche ich mich wahrscheinlich jedes Jahr hierselbst aufhalte, nur den dritten Theil des Jahres ausmachen, zweitens, daß es gerade die 4 Arbeits-Monate für mich sind, in denen ich „den Menschen“ aus dem Wege gehe, vielleicht sogar den Freunden; erwägen Sie vor Allem, daß es ein Freund ist, mit dem man eine strenge Verabredung machen kann, und der an allen Ihren Arbeits- und Lebens-bedingungen beinahe ein persönliches Interesse hat. Andererseits nämlich räth Vieles zu Nizza: es ist ein Ort, um das ganze Jahr daselbst zu leben —, Sie werden den Sommer viel erquicklicher finden als Venedig ihn geben konnte, Dank den nächtlichen Seewinden und Abkühlungen. Sodann ist Nizza, ästhetisch genommen, die entgegengesetzte Art Süden als Venedig es war; es schiene mir eines Versuches würdig, zu sehen, was Ihnen die Musen oder der Mistral oder der leuchtende Himmel hier zu erzählen hätten. Drittens leben Sie hier billiger als an jedem andren Orte der riviera: N<izza> ist ein großer freimüthiger Ort, der es ungefähr Jedermann recht zu machen versteht. Die Preise sind billigerweise während der Winter-Saison höher, man sagt mir, daß sie im Sommer um die Hälfte fallen. Trotzdem hätte ich auch für den Winter Ihnen respektable Trattorien zu empfehlen, wo Sie essen werden, wie Sie es in Venedig gewohnt sind, eher billiger, eher besser. Es ist ein himmlischer Umstand, daß Sie nicht die Üppigkeits-Gelüste der meisten Künstler haben, und daß Ihr so würdiges Leben auch die Tugenden der Einfachheit und Sparsamkeit in sich schließt. — Später werden Sie natürlich einmal ein reicher Mann: aber es liegt heute Alles daran, daß es Ihnen erspart bleiben muß, sich um dies „Später“ zu sorgen. Ihre Kunst will es, daß Sie sorglos leben, nicht wahr, mein lieber Freund?
Ihr N.