1885, Briefe 568–654
589. An Franz Overbeck in Basel
Nizza 31 März 1885.
Alles ist glücklich in meinen Händen, ich danke Dir, lieber alter Freund, für alle diese Sorge und Sorgfalt um mich. Du schreibst nichts von Deiner und Deiner lieben Frau Gesundheit: ich nehme es als ein gutes Zeichen, daß Ihr diesen sonderbaren Winter glücklicher bestanden habt als ich. Für mich gab es viel Überwindung, viel kranke Tage. Mit den Augen steht es immer bedenklicher. Die Mittel Schiessens haben nichts geholfen. Seit vorigem Sommer ist eine Wendung eingetreten, die ich nicht verstehe. Flecken, Verschleierung, auch Thränenfluß. Ich darf schwerlich wieder nach Nizza: die Gefahr, überfahren zu werden, ist hier zu groß. Bei Tische hat man mir immer vorlegen müssen, ich mag bei diesem Zustande nicht mehr in Gesellschaft essen.
Es ist wahrscheinlich, daß ich mir die Reise nach dem Norden erspare, die Gefahren und Aufregungen des Allein-Reisens sind jetzt zu groß für mich geworden. — Dr. Förster ist aus Paraguay zurückgekehrt, großer Jubel in Naumburg. Vielleicht entsteht aus der Verheirathung meiner Schwester auch für mich Etwas Gutes: sie wird die Hände voll zu thun haben und Jemanden besitzen, dem sie völlig vertrauen darf und dem sie wirklich nützen kann: was Beides, bisher, in Bezug auf mich, nicht immer möglich war.
Vom Prozeß contra Schm<eitzner> höre ich nichts Neues. Er hatte sich selber zuletzt den ersten Januar als Termin gesetzt, aber ihn wieder, wie früher, verstreichen lassen, ohne „Mucks“. — Was ich am meisten wünsche, meine 3 ersten Theile Zarathustra ihm aus den Händen und damit aus der „Publicität“ zu ziehn, läßt sich vielleicht erreichen.
Natürlich habe ich für den vierten Z<arathustra> keinen Verleger gefunden. Nun, ich bin’s zufrieden und genieße es sogar als ein neues Glück. Wie viel Scham war immer, bei allen meinen Publicationen, für mich zu überwinden! Wenn ein Mensch, wie ich, die Summe eines tiefen und verborgenen Lebens zieht, so gehört dergleichen vor die Augen und Gewissen der ausgesuchtesten Menschen. Genug, es hat Zeit. Mein Verlangen nach Schülern und Erben macht mich hier und da ungeduldig und hat mich, wie es scheint, in den letzten Jahren sogar zu Thorheiten verleitet, welche lebensgefährlich waren. Zuletzt bringt mich das ungeheure Schwergewicht meiner Aufgabe immer wieder zum Gleichgewicht: und ich weiß ganz gut, was zuerst und zunächst allein Noth thut. —
Ich las jetzt, zur Erholung, die Confessionen des h<eiligen> Augustin, mit großem Bedauern, daß Du nicht bei mir warst. Oh dieser alte Rhetor! Wie falsch und augenverdreherisch! Wie habe ich gelacht! (zb. über den „Diebstahl“ seiner Jugend, im Grunde eine Studenten-Geschichte.) Welche psychologische Falschheit! (zb. als er vom Tode seines besten Freundes redet, mit dem er Eine Seele gewesen sei, „er habe sich entschlossen, weiter zu leben, damit auf diese Weise sein Freund nicht ganz sterbe“. So etwas ist ekelhaft verlogen.) Philosophischer Werth gleich Null. Verpöbelter Platonismus, das will sagen, eine Denkweise, welche für die höchste seelische Aristokratie erfunden wurde, zurecht gemacht für Sklaven-Naturen. Übrigens sieht man, bei diesem Buche, dem Christenthum in den Bauch: ich stehe dabei mit der Neugierde eines radikalen Arztes und Physiologen. —
Über das plötzliche Verschwinden unsres „rückfälligen“ Musikers, der auch mich mit einer Karte consternirte, war ich böse. Zuletzt hilft es nichts, ich muß wieder, wie voriges Jahr, nach Venedig und zusehn, woran es eigentlich fehlt. Wir wollen übrigens billig sein: er führt seit Jahren, eine unwürdige Hunde-Existenz als Notenschreiber, was Wunder, wenn er einmal aus der Haut fährt! Das Abschreiben ungeheurer Partituren, das Machen von Klavierauszügen, in den produktivsten Jahren eines produktiven Menschen, wo etwas ganz Anderes noth thut, ist für mich ein Jammer. So schlecht hat es R. Wagner nicht gehabt, und selbst Herr Bungert beschäftigt zu solchen Zwecken andre Musiker und Notenschreiber. Es fehlt Geld — voilà tout! Und deshalb muß dieser „Löwe von Venedig“ erst öffentlich brüllen. Und ich will thun, was ich kann.
Über die Maaßregel des Fl. v. Salis habe ich gelacht. Das gehört unter die Feinheiten der agents provocateurs: sie wollte genau Das, was sie erreicht hat, eine Abweisung, um daraus für die „Agitation“ Capital zu schlagen.
Mich Dir und Deiner lieben Frau zu freundlichem Angedenken empfehlend immer Dein
F. N.