1885, Briefe 568–654
602. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
Venezia 20 Mai 1885.
Mein liebes Lama,
für den Tag, welcher über Dein Lebensloos entscheidet (und zu dem Dir Niemand mehr als ich Glück und Gedeihen und gute Vorzeichen und guten Muth anwünschen kann) — für diesen Tag muß ich mir selber eine Art Lebens-Abrechnung machen. Von jetzt ab wirst Du ganz andre Sachen zunächst und zuvorderst in Kopf und Herzen haben als die Sachen Deines Bruders, und so soll es recht und billig sein — und ebenso liegt es in der Natur, daß Du mehr und mehr die Denkweise Deines Gatten theilen wirst: welche ganz und gar nicht die meine ist, so viel ich an ihr auch zu ehren und zu rühmen habe. Damit Du aber künftighin eine Art Direction hast, in wiefern die Beurtheilung Deines Bruders viele Vorsicht und vielleicht auch Schonung erfordert: schreibe ich es Dir heute, zum Zeichen großer Herzlichkeit, worin das Schlimme und Schwere meiner Lage liegt. Ich habe bisjetzt, von Kindesbeinen an, Niemanden gefunden, mit dem ich dieselbe Noth auf Herzen und Gewissen hätte. Dies zwingt mich heute noch, wie zu allen Zeiten, mich, so gut es gehn will, und oft mit sehr viel schlechter Laune unter irgend einer der heute erlaubten und verständlichen Menschheits-Sorten zu präsentiren. Daß man aber eigentlich nur unter Gleichgesinnten, Gleich-Gewillten gedeihen kann, ist mein Glaubenssatz (bis hinab zur Ernährung und Förderung des Leibes); daß ich keinen habe, ist mein Malheur. Meine Universitäts-Existenz war der langwierige Versuch der Anpassung an ein falsches Milieu; meine Annäherung an Wagner’s war dasselbe, nur in entgegengesetzter Richtung. Fast alle meine menschlichen Beziehungen sind aus den Anfällen des Vereinsamungs-Gefühls entstanden: Overbeck, so gut als Rée, Malvida so gut als Köselitz — ich bin lächerlich-glücklich gewesen, wenn ich mit Jemandem irgend ein Fleckchen und Eckchen gemein fand oder zu finden glaubte. Mein Gedächtniß ist überladen mit tausend beschämenden Erinnerungen, in Hinsicht auf solche Schwächen, in denen ich die Einsamkeit absolut nicht mehr ertrug. Mein Kranksein hinzugerechnet, welches immer die schauerlichste Entmuthigung über mich bringt; ich bin nicht umsonst so tief krank gewesen und noch jetzt durchschnittlich krank — wie gesagt, weil es mir am rechten milieu fehlt und ich immer etwas Komödie spielen muß, statt mich an den Menschen zu erholen. — Ich betrachte mich deshalb ganz und gar nicht als einen versteckten oder hinterhältigen oder mißtrauischen Menschen; im Gegentheil! Wäre ich’s, so würde ich nicht so viel leiden! Man hat es aber nicht in der Hand, sich mitzutheilen, wenn man auch noch so mittheilungslustig ist, sondern man muß den finden, gegen den es Mittheilung geben kann. Das Gefühl, daß es bei mir etwas sehr Fernes und Fremdes gebe, daß meine Worte andere Farben haben als dieselben Worte in andern Menschen, daß es bei mir viel bunten Vordergrund giebt, welcher täuscht — genau dies Gefühl, das mir neuerdings von verschiedenen Seiten bezeugt wird, ist immer noch der feinste Grad von „Verständniß“, den ich bisher gefunden habe. Alles, was ich bisher geschrieben habe, ist Vordergrund; für mich selber geht es erst immer mit den Gedankenstrichen los. Es sind Dinge gefährlichster Art, mit denen ich zu thun habe; daß ich dazwischen in populärer Manier bald den Deutschen Schopenhauern oder Wagner’n anempfehle, bald Zarathustra’s ausdenke, das sind Erholungen für mich, aber vor Allem auch Verstecke, hinter denen ich eine Zeit lang wieder sitzen kann.
Halte mich deshalb mein liebes Lama nicht für toll, noch für ausgesucht-schlecht, und vergieb es mir insbesondre, daß ich nicht bei Deinem Feste zugegen bin: so ein „krankhafter“ Philosoph gäbe einen schlechten Brautvater ab! Mit tausend zärtlichen Wünschen
Dein F.