1885, Briefe 568–654
620. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Sils-Maria im Oberengadin (Schweiz) <etwa um den 10. August 1885>
Meine liebe Mutter
wie sehr wünschte ich, Dir auf Deinen rührenden Brief, für den ich meinen ergebensten Dank ausspreche, irgend Etwas melden zu können, das Dir Freude machte! Aber es bleibt bei Deinem wunderlichen Sohne in solchen Fällen immer „sehr viel zu wünschen übrig“ — die alte Geschichte, die Du kennst! Zum Beispiele: wie gerne schriebe ich, daß ich käme, um den Herbst bei Euch zu verbringen! Wie jetzt die Dinge stehn, glaube ich nicht mehr daran — und Schuld ist mein unehrenwerter Herr Verleger, der, wie es scheint, nun auch den Gerichten gegenüber sein Wort nicht hält. Ein Brief Widemann’s aus Dresden gab eine Andeutung, welche mir die eben geäußerte Besorgniß einflößt. Nun habe ich, im festen Vertrauen, für die zweite Hälfte dieses Jahres, auf dem bezeichneten Wege Geld zu bekommen, schon bei meinem Leipziger Drucker nicht unerhebliche Ausgaben gemacht (c. 100 Thaler); insgleichen habe ich noch in diesem Herbste eine Bücherrechnung zu bezahlen — und, was meine Baseler Geldquellen betrifft, so ist mit diesem Sommer, wie Du weißt, der Wendepunkt eingetreten (ich habe jetzt jedes Jahr 1000 frs. weniger als in den letzten 6 Jahren zu verbrauchen, denn der Staatsbeitrag der Pension ist nicht erneuert worden) Daß ich an den Süden klimatisch gebunden bin, steht leider außer Frage; daß ich mich von jetzt ab noch einfacher einrichten muß, ebenfalls, — vor Allem daß ich die großen Reisen mir versage, welche überdies auch meiner Gesundheit immer sehr nachtheilig gewesen sind. Diesen Sommer hat es sich wieder, auf unheimliche Weise, bestätigt, daß Dein Sohn an allen Tagen mit bewölktem Himmel krank ist. Es geht äußerst langsam mit meiner Besserung; doch glaube ich, mit der bisherigen Milch- Reis- und Fleisch-Diät das Rechte getroffen zu haben. Im Übrigen arbeite ich, so oft ich nur eine gute halbe Stunde Gesundheit erwische, und auch dieser Sommer hat sein Erträgniß. Seltsam! Es wimmelt im Engadin von Menschen, die mich kennen; und wenn ich Zeit hätte, „eitel“ zu sein, so könnte ich einen kleinen „Hof“ um mich haben. Es vergeht kaum ein Tag, wo mir nicht besondre Aufmerksamkeiten erwiesen werden, und was die Anerbietungen betrifft, mit Vorlesen, Musik-Vorspielen etc. so werde ich behandelt wie ein Prinz. Aber „der Einsiedler von Sils-Maria“ fängt an, auf seine „Würde“ zu halten und immer schwerer zugänglich zu sein. Auch esse ich nie mehr in Gesellschaft (außer in solcher, die „man mir giebt“) Zwei Engländerinnen, Mutter und Tochter, und eine alte russische Hofdame sorgen ganz eigentlich für mich, ungefähr wie gute Tanten. Ein ausgezeichneter Musiker und Componist, den die alte Russin sich zu Gaste geladen hat (es ist ihr Contrapunkt-Lehrer) begleitet mich auf meinen Spaziergängen; ist er beschäftigt, so thun’s zwei hübsche junge Gräfinnen, oder ein ehemaliger* Schulpförtner, der mit seiner Schwester hier ist, oder Professor Leskien und Dr. Brockhaus aus Leipzig, oder ein Holländer aus Java, der mit meinen Engländerinnen verwandt ist usw. So, meine liebe gute Mutter, jetzt kannst Du Dir wenigstens vorstellen, was Dein Sohn macht. Das Schlimmste ist: er hat kein Geld, ins Ohr gesagt!
Von Herzen Dein F.