1885, Briefe 568–654
630. An Heinrich Köselitz in Venedig
Naumburg a. d. Saale, Dienstag. <22. September 1885>
Lieber Freund,
inzwischen gab es und giebt es Mancherlei abzuwickeln, und eine Reise nach dem Norden war nicht gut zu vermeiden. Es wird für lange die letzte Reise in dieser falschen Richtung sein: und Alles, was ich insbesondre gegen die klimatische Beschaffenheit Naumburgs einzuwenden habe, bestätigt sich so präcis und unzweideutig, daß ich bereits mit einiger Angst an die Abreise und an die schädliche schwächende Nachwirkung dieses Aufenthalts denke. Im Übrigen thut es mir wohl, noch einmal mit meinen Angehörigen zusammen zu sein: der „Sprengstoff“, in Gestalt des Dr. Förster, wird uns ja in Kurzem recht hübsch über die ganze Erde hin auseinander treiben!
— Heute frage ich bei Ihnen an, ob es bei Ihrem Plane, im Oktober nach Dresden zu kommen, geblieben ist? und ob es schon bestimmtere Entschlüsse giebt? Auch was Schuch inzwischen gethan oder gelassen hat? — Daß ich selber nach Dresden komme, möchte ich gerne versprechen, kann es aber nicht, aus Gründen der Gesundheit. Das Wahrscheinlichere ist vielmehr, daß ich mich im Oktober wieder südwärts auf den Weg mache, vielleicht über Venedig nach Florenz: vielleicht sogar mit ein Paar Wochen Aufenthalt in Venedig, nach dem ich Sehnsucht habe — —
Ist denn das Parterre-Zimmer am Canale grande, gegenüber der Mosaik-Fabrik, noch frei? Seien Sie so freundlich, einmal Ihren Spaziergang dort vorbei zu machen!
Und das Quintett! Was ich Ihnen dazu Glück wünsche, ein größeres Werk diesem heißen Sommer abgewonnen zu haben!
Schönsten Dank für die Citate aus Bebel: obwohl mein Gedächtniß eine Confusion gemacht zu haben scheint, — ich meinte eine andere Seite des Buchs und ein andres „weibliches“ Citat. Zuletzt liegt wenig daran.
Kennen Sie casa Kirsch, ponte di Dio — ein Haus, welches mir Frau Röder-Wiederhold empfohlen hat? Und zuletzt: wissen Sie die jetzige Adresse dieser trefflichen Frau, der nothwendig in kurzer Zeit von mir ein paar freundliche Zeilen zugesandt werden müssen?
Der Sommer in Sils-Maria nahm einen nicht ungünstigen Verlauf; und, dank einigen Veränderungen, die meinen Augen zu Hülfe kamen (z. B. neuen Wegen, welche dem Verschönerungsvereine von Sils alle Ehre machen) ist es sicherer als je, daß dieses Dorf auch fürderhin mich zu Gaste haben wird.
Dieses Jahr nöthigt mich zu lauter abschließenden, wenigstens für eine längere Zeit „endgültigen“ Maaßregeln. — Nächsten Sonnabend eine Zusammenkunft mit dem neuen Buchhändler und Erben Schmeitzner’s, Herrn Erlecke: ich bin für eine neue Auflage von Menschl<iches>, Allzumenschl<iches> vorbereitet. Im Übrigen wird nichts mehr „publicirt“: es geht nunmehr bei mir „wider den Anstand“. — Lange Stille; auch keine neuen Menschen mehr. Die alten Sachen, wenn es noth thut, besser, feiner, voller machen. Sie verstehen diese ganze „Moral“ —
Von Herzen Ihr getreuer
Nietzsche.