1885, Briefe 568–654
631. An Ernst Schuch in Dresden (Entwurf)
<Vermutlich: Leipzig, Anfang Oktober 1885>
Hoffentlich ist Ihnen mein Name nicht unbekannt, und ich darf, ohne mich erst entschuldigen zu müssen, Ihre Gewogenheit in einer Sache in Anspruch nehmen, die mir sehr am Herzen liegt: ich hörte nämlich gern aus Ihrem Munde — oder durch eine Zeile Ihrer Feder — ob die Aufführung der Oper „Der Löwe von Venedig“ für diesen Winter in Aussicht genommen ist. Der Componist, Herr Heinrich Köselitz, welcher früher mein Schüler war und zwei Jahre bei mir Collegien gehört hat, ist inzwischen mir als Musiker u. Freund immer näher und näher getreten; heute gehört er zu den größten Hoffnungen, die ich für die deutsche Kunst habe, und ich zähle seine Musik, insonderheit die genannte Oper zu den besten Dingen, mit denen mich bisher das Leben beschenkt hat. Hier ist jene goldne Brücke der Versöhnung geschlagen, welche über Mozart, Rossini und Wagner hinweg führt — hier ist die südliche Schönheit, die Grazie des Herzens, der helle Himmel, einer ausgelassenen Heiterkeit wieder mit der nordischen Tiefe, der deutschen gelehrten Gründlichkeit und Innigkeit vermählt: und alle die so lange vermißten Zauber der ächten Melodie wirken wieder von Neuem. Ich nenne endlich das Wort, welches die Musik des genannten maëstro am stärksten abhebt und auszeichnet: es ist ganz und gar naive Musik — und man kann von dem Naiven in der Kunst gar nicht hoch genug denken. Als ich Herrn Peter Gast das letzte Mal sah, entwickelte er mir seine sehr guten Gründe, warum er für die Vorführung seines Werkes eigentlich nur zu Ihrer Hand zu Ihrem Feuer zu Ihrer delicatezza in der Interpretation vollkommenes Vertrauen habe — und warum er sich fürchte seine Musik anderswohin zu senden, er traut durchschnittlich den deutschen Kapellmeistern das südländische Temperament und jene instinktive Grazie nicht zu, mit denen sein Löwe von Venedig auf Ihrer Bühne „brüllen“ muß. — Es geschieht so selten, daß ich einmal nach Deutschland komme, wie glücklich wäre ich, in Dresden der ersten Aufführung meiner Leib- und Lieblingsoper beiwohnen zu können (einer Oper, der ich den die europ. Erfolge von Carmen weissage) (im Grunde habe ich in Dresden bisher den stärksten Eindruck einer Oper erlebt: die allererste Aufführung der Meistersinger daselbst, 1866, im Januar, wenn ich mich recht erinnere?)
Hochachtungsvollst und ergebenst