1885, Briefe 568–654
577. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Nizza,> Donnerstag<5. März 1885>
Meine Lieben,
Eure heiteren Briefe sind mir sehr willkommen gewesen, ich wünschte mit ähnlichen Heiterkeiten und Festlichkeiten aufwarten zu können. An diesem Winter in N<izza> bleibt aber Viel auszusetzen, und wollte ich anfangen aufzuzählen, so bekämt Ihr die langweiligste Litanei von der Welt. Das Dümmste ist 1) die Augen — — 2) der beständige (fast beständige) Schmerz im Kreuz, mit einer Ausstrahlung nach der rechten Hüfte zu. Derselbe ist so lästig, daß er mir immer und immer wieder die Frage vorlegt: ob ich überhaupt dies Jahr nach Deutschland kommen kann. Reisen ist nämlich eine Marter für mich geworden, von der Ihr Euch keine Vorstellung machen könnt: die Reise von Zürich bis hierher war etwas Schreckliches, und der Gedanke, mich gar noch weiter als Zürich nach dem Norden zu zu entfernen, will mir nicht in den Kopf. Mir ist zu Muthe, als ob ich eben erst die letzten Reisen überwunden hätte — es kommt dazu, daß ich Sammlung im höchsten Grade nöthig habe, und gar keine Zeit mehr verlieren möchte, nachdem ich so viel verloren habe. (Morgen verläßt mich Herr Lanzky, ein recht braver Mensch, der aber doch mir den Werth und die Nothwendigkeit der Einsamkeit für mich wieder recht an’s Herz gelegt hat. Ich will wohl auf der Hut sein, nicht wieder auf diese Art mir einen Winter rauben zu lassen. Es versteht sich, daß ich mich für viele Zeichen von Wohlwollen und Sorgfalt bei ihm sehr zu bedanken habe: aber Eins ist bei mir hundert Mal wichtiger als alles Andre —)
Was den Sommer betrifft, so habe ich den unheimlichen und mich entmuthigenden Eindruck der warmen Jahreszeit und der Ebenen vom vorigen Jahre her noch zu sehr in Erinnerung, als daß ich daran dächte, den Sommer anderswo als im Engadin zu verleben. (Nicht in Sils-Maria, sondern wahrscheinlich in Celerina) So weiß ich mir denn gar nicht zu helfen, als Euch zu bitten, ob nicht eine Zusammenkunft zwischen uns zu verabreden ist, bei der mir es möglich ist, in der Schweiz zu bleiben. Wenn Hr. Dr. Förster Ende April kommt, wer weiß, ob es dann im Verlauf des Jahres nicht einen Anlaß für zwei Menschen mindestens giebt, etwas herumzureisen. Unsre gute Mutter bitte ich von Herzen darüber nachzudenken (in Bezug auf die nächsten 10 Jahre), daß ein alljährliches Zusammentreffen und -Wohnen sich am besten vielleicht für einen Ort der Schweiz ausdenken ließe*: aber auch Venedig würde mir recht sein.
Was ich von St. Jean, der Halbinsel schrieb, ist inzwischen näher geprüft worden: ich fürchte, es ist unausführbar.
Nizza ist unerträglich geräuschvoll. —
(Über Schmeitzner habe ich einen Brief des Onkel Bernhard: ich sage nichts weiter als daß der Ausdruck, „kaum möglich“ und „größte Schwierigkeit“ darin vorherrscht. —) Am Liebsten gienge ich Ende März aus Gründen der Augen und der Stille nach Venedig. Aber wahrscheinlich wird eine Reise nach Zürich daraus, wo Mehreres auf mich wartet.
Mit den herzlichsten Wünschen, und der Bitte, mit meinem körperlich und geistig sehr angegriffnen Zustande fürlieb zu nehmen
Euer F.