1885, Briefe 568–654
616. An Paul Heinrich Widemann in Dresden
Sils-Maria, Oberengadin, Schweiz. <31. Juli 1885>
Sie haben, mein werther Freund, mir durch Ihren Brief und die Übersendung Ihres Werks keine kleine Ehre erwiesen — gar nicht zu reden von dessen letzter Seite, wo Sie meinem Sohne Zarathustra die erste öffentliche Censur feierlich und festlich ausstellten: — Das soll Ihnen nie vergessen werden! Am Tage, an dessen Abende Ihr Buch in meine Hände gelangte, vorvorgestern nämlich — hatte ich morgens nach Venedig den Auftrag abgegeben, daß Ihnen der vierte Theil des Z<arathustra> (das nicht herausgegebene und geheim zu haltende verwegene „Finale“ meiner Symphonie) umgehend zugesandt werden möge. Sie sehen, daß mein Wunsch, Ihnen irgendwie die Freude über Ihr Werk, als vollbracht, auszudrücken, nicht einmal sich die Zeit nahm, dessen Ankunft abzuwarten. Heute kommt meine Freude über die That, — eine ganz außerordentliche That, wie mir scheint — zu einem ersten vorläufigen Worte. Der Eindruck stimmt sehr gut zu alle dem, was ich zuletzt über Sie erzählt bekam, durch Herrn Schmeitzner, bei seinem letzten Besuche in Naumburg: — er sprach von Ihrer Ruhe und Selbst-Beschränkung innerhalb einer großen Aufgabe, von Ihrer Selbst-Kritik, von Ihrer Energie und Willensstärke bei einer unsicheren Gesundheit. Solche Eigenschaften sind es, welche heute selten werden und die Jeden, der sie hat, zu etwas Seltenem, vielleicht Seltsamem machen, worauf hin Zuschauer und Freunde wünschen, hoffen, fürchten, sich sorgen dürfen. Aber zu dem Allen ist es, für mich wenigstens, heute noch nicht Zeit: da hat Ein Wort allein Recht — Dank, mein hochgeehrter Herr und Freund, großen Dank! —
Zuletzt bemerke ich noch, daß ich des verheißenen gebundenen Exemplars mich bereits unwürdig gemacht habe, indem die Ränder des ungebundenen schon mehrfach beschrieben und bekritzelt sind. Unterlassen Sie also diese Zusendung: während ich durchaus nicht Anlaß geben möchte, daß der scharfsinnige Dr. Paul Rée („Stibbe bei Tütz, Westpreußen“) um den Genuß und die Ehre Ihrer Bekanntschaft käme.
— Also, wie es nach den Worten Ihres Briefs zu sagen erlaubt ist,
auf Wiedersehn!
Ihr
ergebenster
Prof. Dr. Friedrich Nietzsche