1885, Briefe 568–654
636. An Franz Overbeck in Basel
Leipzig den 17. Oktober 1885. Auenstraße 48II rechts.
Lieber Freund,
Alles ist glücklich in meinen Händen — und Dein eben gekommener Glückwunsch auch in meinem Herzen! Es war der einzige dem Papiere anvertraute Glückwunsch, den ich dies Mal erhielt: — ich dachte länger über dieses Factum eines ein und vierzigjährigen Lebens nach. Es ist auch eine Art von Resultat, und vielleicht nicht in jedem Betracht ein trauriges, zum Mindesten, wenn man ein Recht sich zugestehn darf, den Sinn seines Lebens in die Erkenntniß zu setzen. Zu ihr gehört Entfremdung, Entfernung, vielleicht auch Erkältung. Du wirst reichlich gemerkt haben, wie die Scala der „Frostgefühle“ jetzt beinahe meine Specialität ist: das kommt davon, wenn man so lange „in der Höhe“ lebt, „auf dem Berge“ oder auch, wie der Vogelfreie, „in der Luft“: man wird für den feinsten Reiz der Wärme empfindlich, und immer empfindlicher — oh man wird so dankbar für Freundschaft, mein lieber alter Freund!
Zwei Tage in Naumburg, zur „Feier“ meines Geburtstages. Immer krank, es ist gar nicht auszumachen, ob von außen nach innen oder von innen her. Dicker dunstiger Himmel und, vielleicht, Naumburg zum letzten Male.
Dr. Förster war mir nicht unsympathisch, er hat etwas Herzliches und Edles in seinem Wesen und scheint recht zum Handeln gemacht. Es überraschte mich, wie viel Dinge er fortwährend erledigte und wie leicht ihm das wurde; darin bin ich anders. Seine Wertschätzungen sind, wie billig, nicht gerade sehr nach meinem Geschmacke, Alles ist zu geschwinde fertig, — ich meine, wir (Du und ich) empfinden diese Art von Geistern als voreilig. — Eine früher einmal von mir gelesene Schilderung Försters, welche die Times machten, muß ich als zutreffend anerkennen.
Inzwischen ging die Geschichte mit Schmeitzner wieder weiter und weiter — ich kann durchaus nicht sagen „vorwärts“. Seit vorigem Montage, wo Nachmittags um 5 Uhr eine feierlich versprochne Entscheidung stattfinden sollte, tiefstes silentium. Zwangsversteigerung in Aussicht, sein ganzer Verlag seit Juni als Pfandobjekt von mir gerichtlich mit Beschlag belegt. Vorausgesetzt, daß die Auction stattfindet, so soll der Versuch gemacht werden, meine ganze Litteratur in meine Hände zu bringen: um sie nachher einem neuen würdigeren Verleger (wahrscheinlich Veit und Comp. d. h. Herrn Credner in Leipzig) zu übertragen. Dies ist das Programm. Ich kann von hier nicht von der Stelle, bevor nicht diese Sache im Reinen ist. —
Gestern fand ich, vom Buchhändler geschickt, Rée’s „Entstehung des Gewissens“ vor und dankte nach raschem Überblicke meinem Schicksale, welches es mit sich brachte, daß ich mir vor zwei oder drei Jahren die Widmung dieses mir zugedachten Werkes verbitten mußte. Armselig, unbegreiflich „altersschwach“ —. Zugleich, durch eine artige Ironie des Zufalls, traf auch das Buch des Frl. Salomé ein, das mich ganz umgekehrt berührt hat. Welcher Contrast zwischen der mädchenhaften und sentimentalen Form und dem willens- und wissenskräftigen Inhalte! Es ist Höhe darin; und wenn es wohl nicht das Ewig-Weibliche ist, was dieses Pseudo-Mädchen hinanzieht, so vielleicht — das Ewig-Männliche. — Übrigens hundert Anklänge an unsre Tautenburger Gespräche. —
Grüße Deine liebe Frau bestens von mir (beiläufig, Förster erzählte von einem sehr hübschen Zusammensein mit Euch —) ich hatte gemeint, daß er Euch ganz unbekannt sei? Treulich Dein
N.