1885, Briefe 568–654
578. An Resa von Schirnhofer in Paris
11 März 1885 Nizza, Pension de Genève, petite rue St. Etienne
Verehrtes Fräulein,
man bekommt diesen Winter schwer Etwas von mir zu lesen, das wollen meine Augen so. Ich wünschte sogar dieser dummen Augen wegen in irgend einem dunklen Venedig oder sonstwo zu sein; denn was ich eigentlich von Nizza verlange, sehr trockne Luft und beständigen sehr reinen Himmel, das kann man diesen Winter hier so wenig als anderwärts haben. Es ist ein Ausnahme-Winter: wir hatten eine Sturmfluth wie seit 50 Jahren nicht, zwei kleine Erdbeben, vier zwei- bis dreitägige Landregen à la tedesca, und ein beständiges unklares Ja- und Neinsagen des Himmels: — was meiner Gesundheit schlecht genug bekommen ist. Sodann aber gab es für mich bis vor wenig Tagen einen Deutschen im Hause hier, der mir sehr zugethan ist, — aber ich mag die Deutschen wenig, es ist eine andre Art von „ziehendem Gewölk“, und mir gar nicht zuträglich. — —
Mag ich denn die Franzosen? Einige von ehemals, vor Allem Montaigne. Aus diesem Jahrhunderte im Grunde nur Beyle, und was auf seinem Boden gewachsen ist.
Und Das ist es, was mir heute diesen Brief an Sie, mein liebes verehrtes Fräulein Resa, abzwingt: obgleich, wie gesagt, die Augen-Moral mir zuschreit „Lesen und Schreiben Sie nicht, mein Herr Professor!“ —
Es soll nämlich in Frankreich eine Art von Stendhal-Schwärmern geben, man spricht mir von solchen, die sich „Rougistes“ nennen. Machen Sie, ich bitte, etwas Jagd darauf: zb. auf eine neue Ausgabe von „Le rouge et le noir“, bevorredet von einem Herrn Chapron, wenn ich recht gehört habe. Wohin hat dieses feine Huhn (es ist todt) seine Eier gelegt? Größere Bücher giebt es nicht von ihm. Und machen Sie doch die Bekanntschaft des lebendsten Schülers von Stendhal, Hr. Paul Bourget und erzählen Sie mir, welche Aufsätze er neuerdings geschrieben hat (— ich zeigte Ihnen hier in Nizza seine gesammelten essays zur psychologie contemporaine) Er ist, wie mich dünkt, der rechte Schüler jenes Genie’s, das die Franzosen 40 Jahre zu spät entdeckt haben (von Deutschen bin ich der Erste, der ihn erkannt hat, und nicht auf eine Anregung von Frankreich her) Die sonstigen berühmten Litteratur-Menschen dieses siècles z. B. Sainte-Beuve und Renan, sind mir viel zu süßlich und undulatorisch; aber was ironisch, hart, sublim-boshaft ist, von der Art wie Mérimée, — oh wie Das meiner Zunge wohlschmeckt!
Ende März geht es über die Schweiz nach Deutschland. Die Verheirathung meiner Schwester ist für dies Jahr im Vordergrunde: — grüßen Sie Malwida von mir und seien Sie selber herzlich gegrüßt
von Ihrem ergebensten
Nietzsche
Ms. Bourget ist Mitarbeiter der Revue nouvelle. — Grüßen Sie die ausgezeichneten Menschen, die ich so sehr liebe, ich meine Monods, von mir, Fl. Natalie ja nicht zu vergessen!
Adieu, ma chère philosophe —, veuillez agréer les tendres et respectueux hommages d’un hermite.