1885, Briefe 568–654
571. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Nizza, den 29 Januar 1885
Dies Mal, meine liebe gute Mutter, wird es mir besonders schwer, Dir Etwas Bestimmtes zu wünschen, das dies Jahr Dir bringen soll; und selbst der Wunsch, daß dies Jahr Dir nichts nehmen soll, will mir nicht über die Lippen. Wir sind allesammt jetzt in großer Schwebe und Unsicherheit und geben deshalb wohl das „Wünschen“ auf; aber was kommt, das wollen wir mit einander tragen und uns zurecht machen.
Sehr gerne wünschte ich auch auf Deinem Geburtstags-Tische vertreten zu sein, mit irgend einem hübschen nützlichen Ding, das Dir Freude macht.
Seit den letzten Nachrichten, die ich gab, habe ich von Dir und unsrer Lisbeth so liebevolle Briefe erhalten, daß ich gern auf der Stelle geantwortet hätte. Aber die Augen, mit denen es schlecht und schlechter geht, geben mir diesen Winter die Entschuldigung für mein briefliches Verstummen nach allen Seiten hin.
Das Wetter hat eine große Crisis auch hier bestanden, es gab drei Tage, wie man sie für Nizza nicht glauben möchte, und eine solche Sturmfluth des Meeres, daß die Promenade des Anglais bis heute jämmerlich an den Nachwirkungen leidet. Seit 50 Jahren hat man so eine Noth nicht erlebt. — Inzwischen ist aber der vollkommen helle Himmel von früh bis Abends zur Regel wieder geworden: was meiner Gesundheit sehr zu Hülfe gekommen ist.
Herr Lanzky ist von St. Raphael zu mir wieder zurückgekehrt und bleibt noch bis zu Ende des Februars. Daß wir uns viel in Gedanken damit beschäftigen, für mich eine bessere und würdigere Existenzform zu schaffen als meine jetzige es ist, und daß ich mich eigentlich fortwährend etwas schäme, so wenig noch auch im äußeren Leben ein Vorbild abzugeben, nach der Art meines Zarathustra, der doch seine Höhle hat und seine zwei Hausthiere — das kannst Du Dir vorstellen. Ein Ort ist zwar schon gefunden, unweit Nizza’s, wo ich später leben will, die Halbinsel St. Jean; aber da muß noch Viel geschafft und geglückt sein, bis es dazu kommt, daß ich dahin übersiedle. Ebenso ist meine Sommer-Existenz im Engadin auf eine ganz neue Basis zu stellen. Überall begreife ich, daß es mit dem Bisherigen vorüber ist, und daß ich jetzt ohne alle Übereilung definitive Zustände zu schaffen habe, zum mindesten ausreichend für 10 Jahre, um mein Lebenswerk mit der vollkommensten Ruhe in Angriff nehmen zu können. Eine Umgebung die zu mir paßt, ich meine zu meinem Werke! Oktober bis Mai in St. Jean, Juli und August im Engadin, die Übergangs-Monate vielleicht in Zürich: so sieht einstweilen das Programm aus. — —
In St. Jean fanden wir vor 8 Tagen die schönsten grünen Geranium-Hecken mit den rothen Blüthen; da dachte ich Eurer und der traurigen Schnee-Welt. —
Abends trinke ich immer jetzt einen starken Grog — heute will ich’s auf Dein Wohl thun!
Dein F.