1885, Briefe 568–654
598. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Venedig, Ende April 1885>
Meine liebe Mutter, ich antworte sofort, sehr erfreut über Deinen Brief und Deine Sendung. Im Grunde bin ich vielleicht niemals so guter Stimmung gewesen wie die letzten Wochen, und es scheint mir, daß ich fortwährend es fühle, wie Ihr bei einander in einer festlichen und freudigen Stimmung seid. Daß ich außerdem einen Musiker habe, der ganz eigens für meinen Geschmack und meine Ohren Musik macht, während ich andre Musik kaum mehr aushalte, ist ein großes Glücks-Geschenk für einen mit schweren Aufgaben überladenen und oft gedrückten, halbzerdrückten Menschen, der nicht mehr ganz jung ist. Es bleibt zu sagen übrig, daß mit meinen Augen es schlimm steht, unheimlich-schlimm; mein ganzes Leben habe ich niemals eine so seltsame und schnell zunehmende Verdunkelung erlebt: es ist Alles vor mir mit Schleiern, welche sich schnell bewegen, überdeckt, dabei thränen die Augen beständig. Für den Sommer muß ich irgend wohin „ins’s dunkle Loch“; ich weiß mir noch nicht zu rathen. Vielleicht nach Vallombrosa, wohin Augenleidende aus Rom zu gehn pflegen: es ist inmitten großer Tannenwälder. Aber freilich, ich möchte nicht wieder mit Herrn Lanzky zusammentreffen, an dem ich diesen Winter mehr „laborirt“ habe als Ihr denken könnt. Ich habe viel Geduld im Verkehr mit den mir fremdesten Naturen; und habe noch Niemanden von mir gestoßen: aber zuletzt büße ich’s immer mit meiner Gesundheit. Am schlimmsten bekommen mir die Langweiligen; am besten die geistigen Hanswürste, — und im Grunde habe ich deshalb, weil man diese unter Deutschen heute nicht findet, fast nur mit Todten Verkehr. — „Bekenntniß einer schönen Seele“, nicht wahr?
Die Steuer hat mich mit 5 frs. gestraft; und gestern, als C. G. Naumann in Leipzig mir Bücher schickte, wurde ich auch mit 5 frs. gestraft: er hatte einen Brief eingelegt, was in Italien strengstens verboten ist. Auf diese Weise werde ich nicht reich, scheint es; aber es schadet meiner guten Laune nichts.
Meine liebe Mutter, Dein Sohn eignet sich schlecht zum Verheirathet-werden; unabhängig sein bis zur letzten Grenze ist mein Bedürfniß, und ich bin für meinen Theil äußerst mißtrauisch geworden in diesem Einen Punkte. Eine alte Frau, und noch mehr ein tüchtiger Diener wäre mir vielleicht wünschenswerther. Wüßte ich nur erst einigermaaßen, wo leben! Du glaubst nicht, an was für delikate Bedingungen die Freiheit meines Kopfes und meine ganze geistige Tüchtigkeit gebunden ist. Und nun die Augen!
Außerdem bin ich gar noch von einer gräßlichen und ganz unmöglichen Verwegenheit meiner Meinungen, ich meine für deutsche Verhältnisse und sittsame gute Freunde und Nachbarn unmöglichen Verwegenheit. Immer aber Komödie spielen, wie ich es so viel thue und gethan habe, geht mir wider den Geschmack; zuletzt ist man doch gerne „bei sich zu Hause“ wenigstens ehrlich. Ich meine: ich kann mir eine „Lebensgefährtin“ gar nicht vorstellen, ohne aus der Haut zu fahren. — —
Gersdorff schrieb mir betrübt: Tuberculose bei seiner Frau constatirt. — Was Köselitzens Oper betrifft: der Löwe von Venedig — die schönste Musik seit Mozart, und doch eine Musik, welche Mozart nicht hätte machen können —, so ist Berlin’s Hoftheater dafür ausgedacht, und Herr von Hülsen wird die Ehre haben, die beste deutsche komische Oper in Scene zu setzen.
Ich sende Herrn Dr. Förster und meiner lieben Schwester die herzlichsten Grüße; auch wißt Ihr, wie hoch ich den Dr. v. Stein schätze (ob er gleich noch im Wagnerschen Sumpfe sitzt, und für meine Denkweise noch keine Nase hat), Dir selber aber den allerschönsten Dank!
Dein F.
Ich wäre gern den Sommer über mit Seydlitzens zusammen, falls sie einen schönen dunklen Wald ausfindig machen. Lisbeth möge ein Bischen nachdenken.