1885, Briefe 568–654
600. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Venedig, 7. Mai 1885>
Mein liebes, liebes Lama,
eigentlich kommt mir Alles sehr wunderbar vor, zum Beispiel, daß Du da so, Dir nichts, mir nichts, mit einem fremden Manne Dich abgiebst und sogar in die weite weite Welt gehn willst. Nun habe ich gleich an Overbeck geschrieben, von wegen des Dürerschen Blattes, das freilich mir viel zu düster vorkommt; dann will ich Dir auch noch mein buntes persisches Handexemplar meines Zarathustra schicken, Du kannst es in irgend einem amerikanischen Urwalde aufstellen, als Fetisch. Auch sende ich zugleich 2 Exemplare des vierten Theils, für Dich und Herrn Dr. Förster, mit der ausdrücklichen Bitte, daß dieser vierte Theil überallhin verschwiegen wird, wie als nicht vorhanden. — Kommt später die Frage in die Nähe, was Alles mit hinüber genommen werden soll in die neue Heimat: so möchte ich dann gern etwas von dem, was am nothwendigsten ist, beschaffen dürfen, als eine Art „Hochzeits-Geschenk post festum“. Die Schmeitznersche Angelegenheit nimmt ja einen Verlauf, daraufhin ich ja wagen dürfte, sogar Geschenke zu machen: zunächst kommt dann mein Drucker Herr C. G. Naumann, welcher 284 Mark 40 Pfennige verlangt. Deine Vorschläge für die Zukunft klingen nicht übel auf meinem Resonanz-Boden wieder; für die Sorge, die sich darin ausdrückt, weiß ich nicht genug zu danken. Meine Gegen-Bemerkung ist, daß vielleicht alle Sorgen für meine Zukunft mit Einem Male abgethan sein könnten. Ich ertrage Vormittags das Leben, aber kaum mehr Nachmittags und Abends; und es scheint mir sogar, daß ich genug gethan habe, unter ungünstigen Umständen, um mich mit Ehren aus dem Staube machen zu können. — Dann werde ich zu blind, um noch lesen und schreiben zu dürfen, es fällt mir fast jeden Tag genug ein, daß deutsche Professoren daraus zwei dicke Bücher machen könnten. Aber ich habe Niemanden, für den das Zeug paßt. Es ist so viel Unerlaubtes darunter; es thut Andern wehe. Ich gestehe, daß ich ganz gerne hier und da eine Vorlesung halten würde, ganz ziemlich und schicklich, als Moralist und großer „Erzieher“, der nicht auf den Kopf gefallen ist; aber Studenten sind so dumm, Professoren sind noch dümmer! Und wo! In Jena? Ich habe jetzt keinen Ort mehr, wo ich gerne bin, ausgenommen Venedig: nur daß der hohe Gehalt der Feuchtigkeit der Luft 90 procent, mich malträtirt. Nizza und Oberengadin sind sehr trocken. Und dann wäre ich besser daran in Venedig, wenn mein werther Freund K<öselitz>, der große Musiker, nicht hier wäre. Er ist ein Tölpel und zum Verkehre ungeschickt; ich habe zu viel zu überwinden, was mir wider den Geschmack geht. Freilich: seine Musik ist ein Ding ersten Ranges, von mozartischer Güte und Verklärung: daran kann der Meister Richard nicht rühren. — Übrigens rührt es mich, daß Ihr den 22. Mai gewählt habt: mir ist immer zu Muthe, als ob Du Dich, in allen möglichen Beziehungen, auf einen Fleck Erde niedergelassen und festgesetzt hast, wo ich einmal früher gesessen habe; alles, was Du thust, ist mir Erinnerung, Nachklang. Ich selber — ich bin schrecklich weit davon gelaufen, und habe Niemanden mehr, dem ich auch nur erzählen möchte, wohin. Glaube ja nicht, daß mein Sohn Zarathustra meine Meinungen ausspricht. Er ist eine meiner Vorbereitungen und Zwischen-Akte. — Verzeihung!
Gersdorff kommt den Sommer in die Schweiz, mit seiner kranken Frau (die Tuberkulose, unter uns gesagt) Lanzky schrieb, zu meinem großen Erstaunen, kürzlich einen großen Dankes-Brief hierher: wie ein ganz umgewandelter Mensch —, und ich soll daran Schuld sein! So sind die Bemühungen dieses Winters vielleicht doch nicht so umsonst gewesen, wie andre Bemühungen. — Ein alter Holländer aus Haarlem hat mir ein „Huldigungsschreiben“ geschickt: daß, nach dem Tode Schopenhauer’s, ich usw. — Die Leute wissen und riechen nicht genug, wohin es mit mir geht. Ich bin ein gefährliches Thier und eigne mich schlecht zum Verehrtwerden.
Die akad. Gesellsch. in Basel hat für 3 Jahre wieder die 1000 frs. Pension erneuert, insgleichen sind die 1000 frs. aus dem Heuslerschen fond, seitens der Universität-Regenz, mir auch wieder zuerkannt. Der Staats-Beitrag von 1000 frs. geht mit diesem Jahre (nicht schon mit dem Juni) zu Ende, und es ist kaum wahrscheinlich, daß er erneuert wird. Dies ist die „Sachlage“. —
Unsrer lieben Mutter habe ich gleich nach Empfang der schönen Sendung geantwortet; was für gute Hemden! Was für Honig! Danke ihr noch mals in meinem Namen. — Ich weiß nicht, wohin ich diesen Sommer gehe. Ein tiefer Wald wäre das Beste, aber es müßten heitere Menschen da sein, vor denen ich nicht auf der Hut zu sein noth habe. — Alles was für „Emancipation des Weibes“ schwärmt, ist langsam, langsam dahinter gekommen, daß ich „das böse Thier“ für sie bin. In Zürich, unter den Studentinnen, große Wuth gegen mich. Endlich! — Und wie viele solche „Endlichs“ habe ich abzuwarten! — —
In Liebe
Dein Bruder.
Ich habe schrecklich hier gewohnt, bin umgezogen, und nun ist’s noch schlimmer. Niemand sorgt für so etwas. Oh Genua! und Nizza!
Himmel! Ich muß doch selber die drei ersten Zarathustra’s haben! Also bitte, schicke mir umgehend die drei Hefte aus dem Naumburger Vorrathe. Du bekommst, wie gesagt, mein Exemplar.