1881, Briefe 74–184
96. An Erwin Rohde in Tübingen
<Genua, 24. März 1881>
So läuft nun das Leben dahin und davon, und die besten Freunde hören und sehen nichts von einander! Ja das Kunststück ist nicht gering: zu leben und nicht mißmuthig zu werden! Wie oft bin ich in dem Zustande, wo ich gerne bei meinem alten rüstigen blühenden tapferen Freunde Rohde eine Anleihe machen möchte, wo ich eine „Transfusion“ von Kraft, nicht von Lammblut, sondern von Löwenblut recht von Nöthen hätte — aber da steckt er in Tübingen, in Büchern und im Ehestande, für mich in allen Beziehungen unerreichbar. Ach, Freund, so muß ich denn fort und fort vom „eignen Fette“ leben: oder wie Jeder weiß, der dies einmal recht versucht hat, vom eignen Blute trinken! Da gilt es sowohl den Durst nach sich selber nicht verlieren als auch sich nicht auszutrinken.
Im Ganzen bin ich aber erstaunt, um es Dir zu gestehen — wie viel Quellen der Mensch in sich fließen lassen kann. Selbst einer, wie ich, der nicht zu den reichsten gehört. Ich glaube, wenn ich alle die Eigenschaften besäße, die Du vor mir voraus hast, ich würde übermüthig und unausstehlich. Schon jetzt giebt es Augenblicke, wo ich auf den Höhen über Genua mit Blicken und Empfindungen herumwandele, wie sie von eben hier aus vielleicht einmal der selige Columbus auf das Meer und auf alle Zukunft hinaus gesandt hat.
Nun, mit diesen Augenblicken des Muthes und vielleicht sogar der Narrheit muß ich mein Lebensschiff wieder in’s Gleichgewicht zu bringen suchen. Denn Du glaubst nicht, wie viel Tage, und wie viel Stunden selbst an erträglichen Tagen — überstanden werden müssen, um nicht mehr zu sagen. Soweit man mit „Weisheit“ der Lebenspraxis einen schwierigen Zustand der Gesundheit erleichtern und mildern kann, thue ich wahrscheinlich Alles, was man in meinem Falle thun kann — ich bin darin weder gedanken- noch erfindungslos — aber ich wünsche Niemanden das Loos, an welches ich anfange mich zu gewöhnen, weil ich anfange zu begreifen, daß ich ihm gewachsen bin.
Aber Du, mein theurer lieber Freund, bist nicht in einer solchen Klemme, wo man sich dünn machen muß, um gerade sich durchzuwinden; Overbeck ist es auch nicht, ihr thut eure schöne Arbeit und ohne viel davon zu sprechen, vielleicht ohne viel davon zu denken, habt Ihr alles Gute vom Mittage des Lebens — und ein wenig Schweiß dazu, wie ich vermuthe. Wie gerne hörte ich ein Wort von Deinen Plänen, von großen Plänen — denn mit einem solchen Kopfe und Herzen, wie Du hast, trägt man hinter all der täglichen und vielleicht kleinen Arbeit, irgend etwas Umfängliches und Sehr-Großes mit sich herum — wie sehr würdest Du mich erquicken, wenn Du mich solcher Mittheilungen nicht für unwürdig hieltest! Solche Freunde wie Du müssen mir helfen, den Glauben an mich in mir selber aufrecht zu erhalten; und das thust Du, wenn Du mich für Deine besten Ziele und Hoffnungen zum Vertrauten behältst. — Wenn sich unter diesen Worten die Bitte um einen Brief verbergen sollte, nun ja! liebster Freund, ich hätte gerne etwas recht, recht Persönliches von Dir wieder einmal in Händen — damit ich nicht immer nur den vergangenen Freund Rohde im Herzen empfinde, sondern auch den gegenwärtigen und — was mehr ist — den werdenden und wollenden: ja den Werdenden! den Wollenden!
Von Herzen
der Deine.
Sage Deiner lieben Frau ein Wort zu meinen Gunsten: sie soll nicht böse sein, daß ich sie immer noch nicht kenne: irgend wann einmal mache ich Alles gut.
Genova (Italia)
poste restante