1881, Briefe 74–184
143. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria Ende August 1881.
Aber das sind ja herrliche Neuigkeiten, mein lieber lieber Freund! Vor allem, daß Sie fertig sind! Mir wird bei dem Gedanken dieses ersten großen Fertigwerdens Ihres Lebens unsäglich wohl und feierlich zu Muthe, ich werde den 24. August 1881 im Gedächtniß behalten! Wie es nur zugeht! Aber mich überkommt, sobald ich nur Ihres Werkes gedenke, ein Gefühl von Befriedigung und eine Art von Rührung, dergleichen ich in Bezug auf meine eignen „Werke“ nicht kenne. An diesen ist etwas, das immer und immer meine Scham beleidigt: sie sind Abbilder eines leidenden unvollständigen, der nötigsten Organe kaum mächtigen Geschöpfes — ich selber als Ganzes komme mir so oft wie der Krikelkrakel vor, den eine unbekannte Macht über’s Papier zieht, um eine neue Feder zu probiren. (Unser Schmeitzner hat ganz gut verstanden, mich an diesem Punkt empfindlich zu berühren, indem er in jedem seiner letzten Briefe betonte, daß „meine Leser keine Aphorismen mehr von mir lesen wollten“.) Nun, Sie, lieber Freund, sollen kein solcher Aphorismus-mensch sein, Ihr Ziel geht in’s Höhere, Sie haben nicht nur, wie ich, den Zusammenhang und das Bedürfniß des Zusammenhanges ahnen zu lassen — Ihre Aufgabe ist es, in Ihrer Kunst die höheren Stilgesetze wieder offenbar zu machen, deren Beseitigung die Schwäche der neueren Künstler fast zum Princip erhoben hat: Ihre Aufgabe ist es, Ihre Kunst wieder einmal fertig zu zeigen! Das fühle ich, wenn ich an Sie denke, und ich genieße in dieser Aussicht ein Vollendetwerden meiner eignen Natur wie im Bilde. Diesen Genuß haben Sie mir bisher allein gegeben, und erst seitdem ich Ihre Musik kenne, steht es so zwischen uns.
Und dann die zweite Neuigkeit: daß Wien nach Venedig und der Berg zu Muhammed kommt! Welche Unruhe nimmt dies von mir! Ich sehe jetzt den Gang der Dinge, Ihre erste festliche Einführung — ich vermuthe, Sie werden, unmittelbar in dem Erfolge, den Muth haben, Ihren aesthetischen neuen Willen durch ein Paar beredte Schriftstücke der Welt kund zu thun und damit über die einzig zulässige Interpretation Ihres Werkes die Verwirrung beseitigen. Bekennen Sie sich ungescheut zu den höchsten Absichten! Menschen wie Sie müssen ihre Worte voranwerfen und sie durch ihre Thaten einzuholen wissen (selbst ich habe mir bisher erlaubt nach dieser Praxis zu leben) Benutzen Sie alle Freiheiten, die man dem Künstler allein noch zugesteht und bedenken Sie wohl: unsre Aufgabe ist unter allen Umständen anzutreiben, „dorthin“ zu treiben — gleichgültig beinahe, ob wir selber dorthin gelangen! (Die exhortatio indirecta finde ich zum Erstaunen oft in meinem letzten Buche z. B. in dem Abschnitte § 542 „der Philosoph und das Alter“ — die direkte Ermahnung und Anreizung hat dagegen etwas so Altkluges.)
So viel für heute — es ist gar nicht nöthig, hierauf zu antworten, lieber Freund. Wenn wir uns einmal wieder sehen, spielen Sie mir Ihre Musik als Antwort (sie ist mir in diesen Monaten recht in’s Herz gesickert, und, aufrichtig! — ich weiß jetzt nichts, was ich lieber hören möchte —)
Es war mir eine rechte Freude, die Handschrift meines alten braven Gersdorff wiederzuerkennen (leider in etwas zu blasser Tinte) und zwar von einem Interesse Zeugniß ablegend, welches annoch selten ist und das ihn mir recht in der Nähe meiner Befürfnisse und Freuden zeigt.
Leben Sie wohl und gedenken Sie meiner als eines durch Ihren letzten Brief Hochbeglückten.
Ihr Freund Nietzsche.