1881, Briefe 74–184
83. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 22. Februar 1881>
Ist es wahr, lieber Freund, daß Sie einen guten Glauben an das Ganze haben? Oder haben Sie mich nur etwas ermuthigen wollen? Ich bin so durch fortwährende Schmerzen zerbrochen, daß ich nichts mehr beurtheilen kann, ich sinne darüber nach, ob es mir nun nicht endlich erlaubt sei, die ganze Bürde abzuwerfen; mein Vater als er so alt war wie ich es bin, starb. — Auf Ihre vorletzte Karte hätte ich gleich antworten sollen und mögen — aber ich konnte nicht! sie war von einem feinen und freundlichen Geiste eingegeben, Madame de Sévigné würde Ihnen ein Compliment dafür gemacht haben. — Titel! Der zweite „E<ine> Morgenr<öthe>“ ist um einen Grad zu schwärmerisch, orientalisch und weniger guten Geschmacks: aber das wird durch den Vortheil aufgewogen, daß man eine freudigere Stimmung im Buche voraussetzt als beim andern Titel, man liest in anderem Zustande; es kommt dem Buche zu statten, welches, ohne das Bischen Aussicht auf den Morgen, doch gar zu düster wäre! — Anmaaßend klingt der andre Titel auch, ach, was liegt noch daran! Ein wenig Anmaaßung mehr oder weniger bei solch einem Buche! — Die Orthographie und die grammatische Correktheit, lieber Freund, sind wieder Ihre Sache, ich habe keine andre Orthographie als die Köselitzische. Mitunter mache ich Sprachfehler z. B. in der bildung der Conjunctive: verbessern Sie mich in allen Stücken, ohne irgend ein weiteres Wort!
Hinter diesem ganzen Buche klingt mir meine Musik zu Manfred — denken Sie sich! — Was macht Freund Widemann? Von Dr. Rée höre ich das Betrübteste, sein Vater ist in der Nachwirkung einer Operation gestorben, seine Mutter schwer krank. Sind Sie wirklich diesen Sommer noch in Venedig? Frau v. Wöhrmann bleibt, wie ich höre. — Und Herr Racowitz? — Meinem alten Kameraden Gersdorff danken Sie des Herzlichsten für seinen Gruß, es steht zwischen uns beim Alten. (Wenn er sich nur frei machen wollte! Aber er ist so eigensinnig und zwar in Hinsicht auf Andre z.B. seine Verwandten! Denken Sie, was ich zuverlässig erfahre und was man nicht wissen darf, daß G<ersdorff>’s Vater sich erschossen hat.)
Nun, mein lieber einziger Leser und Schreiber, wir müssen das einmal Unternommene gut zu Ende führen, auch Herr Schmeitzner und Oschatz müssen angetrieben werden. Inzwischen giebt es Niemanden, an den ich mit so herzlicher und dankbarer Gesinnung dächte als an Sie!
In Treue der Ihrige
F.N.
Kennen Sie Jemanden in Bologna? Aber vielleicht komme ich noch nach Venedig, etwa Mitte April, ich muß mich von mir selber abziehn, meine Gedanken fressen mich auf. Ich will rudern — wer hat ein Boot? Aber allein. — Und meine Wohnung? —