1881, Briefe 74–184
101. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 10. April 1881> Sonntag früh.
Als ich gestern Ihren Brief las, „gieng mein Herze in Sprüngen“, wie das Kirchenlied sagt, — es war gar nicht möglich, mir jetzt zwei angenehmere Dinge mitzutheilen! (Das Buch, zu dem allmählich in mir ein nicht geringer Hunger entstanden ist, wird wohl heute in meine Hände kommen) Also: so soll es sein! Wir Beiden kommen noch ein Mal zusammen, auf dieser aussichtsreichen Kante des Lebens und schauen mit einander vorwärts und rückwärts und geben uns die Hand dabei, zum Zeichen, daß uns viele viele guten Dinge gemeinsam sind, mehr als wir in Worten sagen können. Sie können es kaum wissen, wie erquickend mir der Gedanke dieser Gemeinsamkeit ist — denn Einer mit seinen Gedanken allein gilt als Narr, und oft genug auch sich selber: mit Zweien aber beginnt die „Weisheit“ und die Zuversicht und die Tapferkeit und die geistige Gesundheit. — — — — — —
Also Recoaro! Ich habe nur noch bis Ende dieses Monates mein Zimmer in Miethe und gedachte jedenfalls den ersten Mai abzureisen: nun, wenn es Ihnen gelegen kommt, so reise ich an diesem Tage nach Vicenza (von da sind es 4 Stunden Fahrt — das ist für den nächsten Tag) Sehen Sie doch zu, noch Einzelheiten über Preise der Zimmer u.s.w. zu bekommen; ich habe gelernt, daß das Wissen um Preise die Hälfte der Sparsamkeit selber ist. (Hier habe ich monatlich, alles in allem, 80 lire gebraucht — so billig kann man nur in großen Seestädten leben!)
Beim Weiterlesen im Venediger Hefte ist mir der Wunsch, den ich Ihnen ausdrückte, immer lebhafter gekommen. Wirklich, es steht der Inhalt dieses Heftes nicht in meinem neuen Buche — aber es ist wie die gute Nachbarschaft dazu. Zweierlei fiel mir auf: einmal, Sie haben so viel erlebt und sodann, Sie haben mehr als irgend Jemand, den ich kenne, sich geübt, seit vielen Jahren, sich hell gut und eigentlich auszudrücken: die Worte strömen Ihnen jetzt zu, die rechten Worte. Sie dürfen mir ein wenig hierin vertrauen — ich habe in solchen Dingen Witterung und selbst einiges Wissen. Und damit Sie nicht glauben, ich wolle Sie jetzt loben, füge ich gleich hinzu: Sie verstehen sich als Schriftsteller nicht auf das Schimpfen und nicht auf die Bosheit — und das zu wissen ist ganz gut. Es giebt Menschen, deren Charakter immer gerade zu derselben Zeit seine hohe Fluth hat, wo ihr Intellekt die seine hat: es scheint mir, daß Sie zu diesen gehören. Es hat dies auch einige kleinere Beschränktheiten in sich, welche man, wie gesagt, wissen muß, um von sich nichts Falsches zu fordern.
Gestern habe ich, unter Anleitung meiner Wirthin, ein Genueser Gericht gekocht, dessen Hauptbestandtheile Artischocken und Eier waren.
Ich bin jetzt so weit hier heimisch, daß alle, denen ich meiner Lebensbedürfnisse halber mich nähere, ein freundliches Gesicht und Wort für mich haben. Ja, ich habe Beispiele von einem mehr als artigen, „uneigennützigen“ Betragen gegen mich.
Dagegen schweigt Herr Schm<eitzner> fortgesetzt, was weder freundlich, noch artig ist: vor 7 Wochen kündigte er einen Brief, durch jenes Kärtchen, an — aber der Brief kam nicht. Ich bat ihn vor 4 Wochen, mir ein paar Bücher zu schicken — aber die Bücher kamen nicht. Er nöthigt mich, nun auch zu schweigen.
Das Titelblatt sah greulich aus! — Eine wesentliche Änderung habe ich gemacht — Morgenröthe und nicht „Eine M.“ Ein Titel muß vor allem citirbar sein, — das war er bisher nicht. Zudem: in dem „Eine“ lag etwas Pretiöses.
Leben Sie wohl! Den allerschönsten Dank!
Ihr Freund F. N.
Sagen Sie Gersdorffen, daß der ausbrechende Krieg in Tunis alle Reisepläne in’s Weite schiebt, und daß es unrathsam ist, für diesen Herbst und Winter als Fremder dort anzulanden — man hat die mißtrauische Gesinnung und Schlimmeres gegen sich. — Ärgerliche Kreuzung!