1881, Briefe 74–184
121. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, 7. Juli 1881>
So habe ich mich denn wieder nach dem Engadin hindurchgerettet, und mein erster Brief von hier aus soll an Dich sein, meine liebe Schwester und Dir meine Geburtstags-Wünsche und -Herzlichkeiten überbringen. Sehr gerne wäre ich auf Deinem Geschenktischchen vertreten — und dafür bitte ich Dich nun selber zu sorgen, nach Deinem Geschmacke und in meinem Namen. Was ist Dir aber zu wünschen? — ich weiß es nicht recht und finde überhaupt von Jahr zu Jahr mehr, daß man, was man hat, nützen und ausnützen soll (selbst sein Schlimmes, wie eine schlechte Gesundheit) und sich des Wünschens lieber enthalten sollte: die Dinge, die man so begehrt, halten zuletzt, wenn man sie bekommt, nicht, was sie versprochen haben. Dies Alles sind freilich Theorien, die zu meinem Leibe und Leben mehr passen als zu dem Deinen; blase sie also ruhig in den Wind, wenn sie Dir nicht gefallen. Ich für meinen Theil wünsche mir nichts mehr: weiß ich doch kaum, wie ich mit dem fertig werden soll, was ich habe. Dies ist dunkel geredet, aber nicht dunkel gedacht. —
Es war eine böse und gefährliche Zeit, ich bin aus Recoaro kaum mit dem Leben davon gekommen. Die Anfälle kamen jeden Tag, alle bösen Complikationen zeigten sich (Erbrechen u.s.w.) — und trotzdem schien Alles so günstig wie möglich eingerichtet (Diät Bewegung Ruhe schöne und erhabne Gebirgsnatur, Alleinsein u. s. w.) Aber mit den Orten ist es jetzt bei mir ein reines Experimentiren, an den meisten gehe ich zu Grunde — es kommen Bedingungen in Betracht, die eben nur bei meiner Art von Natur so entscheidend sind (die der atmosphärischen Elektricität); darauf hin muß ich die Orte ausprobiren. Basel Naumburg Genf Baden-Baden, fast alle Gebirgsorte, die ich kenne, Marienbad, die italiänischen Seen u. s. w. sind Orte zum Zugrundegehen. Der Winter am Meere ist erträglich, das Frühjahr (Sorrent und Genua) fortwährendes Leiden (wegen der unstäten Bewölkung) So oft mir nur einfällt, wie fürchterlich und hart ich die letzten 2 Jahre wieder zugebracht habe, selbst wenn es in aller Geduld geschah, so kann ich hier die Thränen nicht zurückhalten. Hier im Engadin ist mir bei weitem am wohlsten auf Erden: zwar die Anfälle kommen hierher wie überall hin, aber viel milder und menschlicher. Ich habe eine fortwährende Beruhigung und keinen Druck, wie sonst überall; die Aufregung hört hier für mich auf. Ich möchte alle Menschen bitten „erhaltet mir nur die 3, 4 Monate Engadiner Sommer, sonst kann ich wirklich das Leben nicht länger ertragen“. Wie unvernünftig, im vorigen Sommer nach Marienbad zu gehen, mir den Magen zu verderben und eine allgemeine Schwächung zu holen (durch die purgirende Wirkung dieser Wasser) Als ob ich Kraft fahren lassen dürfte und auf diesem Wege! Verzeihung!
Ich hatte auf der Reise das Unglück, daß ein Zug seinen Anschluß verfehlte; alle meine Pläne geriethen in Verwirrung, meine Gesundheit auch, die Reise dauerte schließlich noch einmal so lang und kostete auch noch einmal so viel. St. Moritz stieß mich heftig zurück, ich hielt es kaum 3 Stunden dort aus, dann nahm ich die Post. All das Elend, das ich dort durchgemacht habe, trat vor mich, es war alles wie mit meinen Schmerzen bewölkt. Trotzdem: es ist der Ort, dem ich es verdanke, daß ich noch lebe. Die Preise waren nicht geringer geworden, für ein einfaches Zimmer wollte man überall 90—180 frs. monatlich.
Am Abend des ersten Tages fürchtete ich das Engadin verlassen zu müssen. Am andern Tag kam Hülfe; ein junger Engadiner, mit dem ich eine Nacht gereist war, bemühte sich in uneigennütziger Weise um mich und hat mir ein stilles Plätzchen ausgemittelt, an dem ich gerne bis ans Ende sitzen bleiben möchte: aber der Engadiner Sommer ist so kurz, und Ende September will ich wieder nach Genua zurück. Ich habe es noch nie so ruhig gehabt, und die Wege, Wälder, Seen, Wiesen sind wie für mich gemacht; und die Preise sind nicht außer allem Verhältniß zu meinen Mitteln. Der junge Mann kam aus Neapel, um sein Hôtel im Sommer zu führen, bei ihm esse ich zu Mittag (allein, wie natürlich) Der Ort heißt Sils-Maria; bitte, haltet den Namen vor meinen Freunden und Bekannten geheim, ich wünsche keine Besuche. Briefe erbitte ich mir mit dieser Adresse: „Silvaplana (Engadin) Schweiz poste restante.“
Und unsrer guten Mutter habe ich noch nicht einmal für ihren schönen Reise-Brief gedankt! —
Sende mir, liebe Schwester, 2 Bücher aus dem Schranke, jedes unter Kreuzband. 1) Dühring, Cursus der Philosophie (das ist zum Lachen für mich) und 2) Carey, Volkswirtschaftslehre (uneingebunden, dick)
Und nun tapfer weiter, meine gute Lisbeth — wie es Dein Bruder auch thun wird. Sei unverzagt!
F.N.