1881, Briefe 74–184
122. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Sils-Maria, 8. Juli 1881>
Liebster Freund, das war eine gefährliche Zeit; kaum bin ich von R<ecoaro> fortgekommen! — Auf der Reise verfehlte ein Zug seinen Anschluß: Verdoppelung der Reisezeit und Reisekosten war das Resultat. Ihr Brief war der erste Gruß im Engadin! St. Moritz stieß mich heftig zurück, es erschien mir unter der Krystallisation meiner dortigen Leiden vor 2 Jahren. Nach 3 Stunden verließ ich es, am Abend wollte ich sogar das E<ngadin> verlassen! Zuletzt bin ich, dank einem ernsten und liebenswürdigen Schweizer, mit dem ich die Nacht durch reiste und der aus Neapel in seine Heimat zurückkehrte, in dem lieblichsten Winkel der Erde untergebracht worden: so still habe ich’s nie gehabt, und alle 50 Bedingungen meines armen Lebens scheinen hier erfüllt zu sein. Ich nehme diesen Fund hin als ein ebenso unerwartetes wie unverdientes Geschenk, gleich Ihrer herrlichen Musik, die hier, in dieser ewigen heroischen Idylle, noch schöner in’s Herz geht als da unten. — Ich erhebe mich eben von einem dreitägigen Anfall (Gewitter). Treulich
Ihr Freund FN.
Sils-Maria (Engadin)Schweiz poste restante.