1881, Briefe 74–184
144. An Paul Rée in Stibbe
Sils-Maria Ende August 1881
Mein lieber lieber Freund, nur zweimal habe ich bis jetzt dem schönsten Schauspiele etwas zusehen dürfen — wie eine selbsteigne intellektuelle Natur sich plötzlich entfaltet, bei Ihnen und bei unserm Freunde Köselitz. Letzterer hat, nach einer wunderbaren tiefen Umwandlung seines „Geschmacks“, neuerdings ein Werk geschaffen, welches eine helle Heiterkeit und Höhe zeigt, daß ich darin wie in einem besseren Wasser schwimmen muß und im Schwimmen auf dieser neuen Fluth vor Vergnügen jauchze: — es ist seine komische Oper „Scherz List und Rache“. Und wenn er immer wieder mir zu verstehen giebt, daß meine Philosophie und Denkweise ihm zu dieser Umwandlung verholfen habe und daß diese hier in Tönen zu erklingen beginne, so bin ich sowohl als alter verunglückter Musikus und ebenso als neuer unmöglicher unvollständiger aphoristischer Philosophus allzu hoch geehrt, um mich nicht auch beschämt zu fühlen.
Und dieses selbe Jahr, das jenes Werk an’s Licht brachte, soll nun auch das Andre Werk an’s Licht bringen, an dem ich im Bilde des Zusammenhanges und der goldnen Kette meine arme stückweise Philosophie vergessen darf! Welches herrliche Jahr 1881! Ich empfinde gegen Sie, mein lieber Freund und Vollender, ein ganz unbegrenztes Wohlgefühl und möchte, was ich Ihnen vielleicht schon zehnmal sagte, eine eigne Sonne schaffen können, die über Ihnen und dem Wachsthum Ihres Gartens allein zu scheinen hätte. Wie sollte ich es auch aushalten, ohne von Zeit zu Zeit meine eigne Natur gleichsam in einem gereinigten Metalle und in einer erhöhteren Form zu sehen — ich, der ich selber Bruchstück und wandelndes Elend bin und durch seltne, selt<e>n „gute Minuten“ in das bessre Land hinausschaue, in dem die ganzen und vollständigen Naturen wandeln. Es jammert mich immer zu hören, daß Sie leiden, daß Ihnen irgend etwas fehlt, daß Sie jemanden verloren haben: während bei mir Leiden und Entbehrung zur Sache gehören und nicht wie bei Ihnen zum Unnöthigen und zur Unvernunft des Daseins.
Nun gleich etwas von dieser Unvernunft! Lieber Freund, wenn Sie jetzt reisen wollen, so thun Sie es ja nicht im Hinblick <auf> eine Zusammenkunft mit mir (die doch nur sehr kurz sein dürfte, nach allen neuern Erfahrungen!) sondern um Ihrer Gesundheit und der Gesundheit Ihrer verehrten Frau Mutter Willen! Sollte aber das Engadin nicht in letzterer Hinsicht ungeeignet sein? Es ist kalt und windig hierselbst, wir hatten letzthin sogar einen vollen Schnee-Wintertag. Den 26. Sept. reise ich nach Genua zurück, ich muß um diese Zeit dort sein, und will in den nächsten Jahren überhaupt nur zwischen Genua und Sils-Maria hin- und herreisen. (Ich vertrage Reisen nicht, habe kein Geld zu Ortswechsel und dergleichen und bedarf der unbedingten Einsamkeit nicht als einer Liebhaberei, sondern als der Bedingung, mit der ich vielleicht das Leben noch ein paar Jahre aushalte (— es geht nämlich, im Vertrauen gesagt, sehr elend). So habe ich mich denn entschlossen, auf das Wiedersehen mit Ihnen zu verzichten und Ihnen dringend ans Herz <zu> legen, für die eigne Wohlfahrt und die der nächsten und zugehörigsten Seele bei dem Entwurfe des Reiseplanes zu sorgen. Ach, mein lieber Freund Rée, bleiben wir zusammen auf den Höhen tapferer Gesinnung, hellen Schauens, fliegen wir miteinander durch Vergangnes und Zukünftiges und seien wir, im Wohlgefühle dieser Gemeinsamkeit, nicht dem Schicksale zu gram, wenn es uns von einander hält — wie es jetzt wieder zu thun scheint! —
In herzlicher Liebe und Treue
Ihr Freund
Nietzsche