1881, Briefe 74–184
119. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Recoaro, 23. Juni 1881>
Mein lieber Freund, hier sind Nachrichten — gute Nachrichten von Dr. Rée.
In Betreff des Herrn Rascovicz schrieb mir meine Schwester vorgestern, auf welche sinnreiche und delikate Manier sie Frau v. W<öhrmann> das Gedächtniß in diesem Punkte geschärft habe. Weder ich, noch sie haben eine Minute Zeit in dieser Angelegenheit versäumt — und doch scheint es zu spät gewesen zu sein.
Wenn das Exemplar der Morgenröthe in Ihre Hände kommt, so erweisen Sie mir noch eine Ehre: gehen Sie mit demselben auf einen Tag nach dem Lido, lesen Sie es als Ganzes und versuchen Sie ein Ganzes für sich daraus zu machen — nämlich einen leidenschaftlichen Zustand. Wenn Sie das nicht thun, so thut es Niemand. —
Jene hundert frs., mein lieber alter Vergeßlicher, haben Sie mir längst abgetragen, in Gestalt von zahllosen Porti, Papierauslagen und was sonst zum Zustandekommen meiner Schriften nöthig war. Verzeihung, daß ich daran erinnere! —
Es bleibt doch bei dem Engadin — denn von meinen vielen Versuchen in der Schweiz (vielleicht 20—30) ist der Engadiner der einzige leidlich gelungene. Es ist schwer für meine Natur das Rechte in der Höhe und Tiefe zu finden, im Grunde ist es ein Tasten, es sind Faktoren dabei, die sich nicht streng fassen lassen (z. B. die Elektricität der ziehenden Wolken und die Wirkungen der Winde: ich bin überzeugt, daß achtzigmal von 100 ich diesen Einflüssen meine Qualen zu danken habe.) Wo ist das Land mit viel Schatten, ewig reinem Himmel, gleichem kräftigen Meerwinde von Morgen bis Abend, ohne Wetter-Umschläge? Dahin, dahin — will ich — ziehn! Sei es auch außer Europa!
Recoaro ist, als Landschaft, eine meiner schönsten Erfahrungen, ich bin seiner Schönheit recht nachgelaufen und habe viel Mühe und Eifer verwendet. Die Schönheit der Natur ist, wie jede andere, sehr eifersüchtig und will, daß man ihr allein diene.
Doch kam ab und zu Ihre Musik dazwischen, wie der beste Traum, den ich seit langem geträumt habe.
Treulich Ihr Freund N.
Adresse: St. Moritz in Graubünden (Schweiz) poste restante.