1881, Briefe 74–184
181. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Genua, 21. Dezember 1881>
Meine Lieben, ein Briefchen von mir soll wenigstens zu Weihnachten in Eure Hände kommen — im Übrigen setze ich voraus (und bitte darum!) daß ich auf Eurem Geschenktische vertreten sein möge — in der Art wie voriges Weihnachten, und daß Ihr Euch von mir etwas bescheert, was Euch Vergnügen macht oder nützlich ist.
Die letzte Neuigkeit ist meines alten Freundes Gersdorff Verlobung — aber was könnte ich Euch Neues erzählen! (Seine Braut, Frl. Martha Nitzsche (Gohlis Leipzig) wer ist das? Kennt Ihr sie?) Er hat auf eine grandiose Art unsre Freundschaft wieder in Ordnung gebracht.
Meine Bücherkisten in Zürich ärgern mich. Ich möchte nämlich die Bücher (mit wenigen Ausnahmen) überhaupt los sein und dachte sie zu verkaufen (und andre nützlichere zum Theil dagegen eintauschen) Nun kommt der theure Transport nach Naumburg, der fast das Geld verschlingt, das ich dafür in Leipzig lösen könnte!
Meine Augen gehen reißend abwärts, ich kann es nicht verhehlen. Ich werfe jetzt öfters etwas um, zerbreche etwas oder stolpere. Wo finde ich eine andre Stadt, die so herrlich mit breiten Platten gepflastert ist, wie Genua, wo ich weit in der Umgebung herum gehen kann und immer auf glattem harten Steine (mit Riefen darin, wo es auf- oder abwärts geht)?
Überhaupt ist Genua doch eigentlich mein glücklichster Griff, in Bezug auf Gesundheit und geistige Ungestörtheit.
Ich habe ein sehr helles, sehr hohes Zimmer — das wirkt gut auf meine Stimmung. Ganz in der Nähe ist ein reizender Garten, der offen steht, mit mächtigem waldartigen Grün (auch im Winter) Wasserfällen, wilden Thieren und Vögeln und herrlichen Fernblicken auf Meer und Gebirge — alles auf sehr kleinem Raume.
Jetzt verzehren die Genuesen ihr Weihnachtsbackwerk, ihr pane dolce di Genova in ungeheuren Massen und senden es nach aller Welt hin. Es ist ganz genau unsre Stolle, oder vielmehr: unsre Stolle ist die deutsche Nachahmung des pane dolce di Genova. Ein Gebäck mit Mandeln Rosinen Citronat kann nicht gut rein deutsche Erfindung sein — das liegt auf der Hand.
Und nun wollen die Augen nicht mehr — und vielleicht könnt Ihr dies Geschreibsel nicht lesen?
Nach der Schreibmaschine wäre eine Vorlesemaschine eine sehr schöne Erfindung. Jeder Vorlese-Mensch ist eine Störung für ein denkendes und sensibles Thier, wie ich bin.
Adieu! meine Lieben, die Ihr mir so schöne lange Briefe geschrieben habt! Lauft glücklich das alte Jahr zu Ende ab — wer weiß, was das neue alles bringen wird, Gutes und Neues! Das ist ja das Beste vom Leben — le long espoir et les vastes pensées, nach Lafontaine.
In herzlicher Liebe
Euer Fritz.
Mittwoch früh.