1884, Briefe 479–567
566. An Franz Overbeck in Basel
Nice <France> Pension de Genève petite rue St. Etienne22 Dez. 1884.
Mein lieber Freund
Dein letzter Brief, ein schöner Klang aus Deinem Geburtstags-Gefühle heraus, that meinem Herzen so wohl — gerne hätte ich gleich noch einmal geschrieben! Aber die Thatsache dieses Winters heißt leider Augenleiden — und folglich äußerste Beschränkung alles Schreibens und Lesens. Über die Ursache dieses Leidens bin ich außer Zweifel: mein Zimmer im Engadin hat kein Licht (einer schwarzen Felswand ganz nahe, Ein einziges kleines Fenster — das Zimmer darf nicht wieder von mir bewohnt werden! Vielleicht habe ich auch im Sommer zu viel schlecht gedruckte Bücher gelesen (deutsche Bücher über Metaphysik!) — — Der Versuch mit Mentone mißrieth, aber das Mißrathen war mir sehr lehrreich. Nizza übt genau wie im vorigen Winter einen überraschend-schnell-wohlthätigen Einfluß — und ich begreife nunmehr, daß es die Lufttrockenheit ist, welche mich Nizza und Oberengadin lieben läßt: ich meine, der lufttrockenste Ort der Riviera und der Schweiz, also Nizza und Oberengadin thun meinem Kopfe am wohlsten. Daß die genannten Gegenden auch eine große Menge heller reiner Tage aufweisen, hängt indirekt mit der erwähnten großen Lufttrockenheit zusammen. Nizza 60 mm, Mentone aber 70 mm im Durchschnitt — Es geht besser, die Anfälle sind hier viel seltener.
An sich ist mir die Stadt N<izza> gräßlich, ich verhalte mich defensiv und wie als ob sie nicht da wäre: mir liegt an der Luft und dem Himmel von N<izza>
Albert Köchlins sind wieder artig gegen mich, auch der General Simon ist sich gleich geblieben. Sodann wohnt Herr Paul Lanzky in meiner Pension, ein großer Verehrer von mir: ehemals Redakteur der rivista Europea, in summa also ein Litterat. Als er mir aber gestern einen langen Essay über mich (gedruckt in einem ungarischen Blatt!) zu lesen gab, blieb mir nichts übrig als zu thun, wie voriges Jahr mit Herrn Dr. Paneth, ebenfalls einem großen Bewunderer und Anbeter: nämlich ihn zu verpflichten, nicht über mich zu schreiben. Ich habe ganz und gar keine Lust, eine neue Art von Nohl, Pohl und „Kohl“ um mich aufwachsen zu lassen — und ziehe meine absolute Verborgenheit tausend Mal dem Zusammensein mit mittelmäßigen Schwarmgeistern vor. —
Hast Du Stein’s „Helden und Welt“ gelesen? — Bitte, thu’s.
Ich lasse mir einen größeren Aufsatz Emerson’s, der einige Klarheit über seine eigene Entwicklung giebt, in’s Deutsche übersetzen (schriftlich); beliebt es, so steht er Dir und Deiner lieben Frau zu Gebote. Ich weiß nicht, wie viel ich darum gäbe, wenn ich nachträglich bewirken könnte, daß eine solche herrliche große Natur, reich an Seele und Geist, eine strenge Zucht, eine wirkliche wissenschaftliche Cultur durchmachte. So wie es steht, ist uns in Emerson ein Philosoph verloren gegangen!
Dir und Deiner lieben Frau das Beste zum Übergange in’s neue Jahr wünschend Dein
N.
Willst Du mir 500 frs. (französisch Papier) in der alten Weise hierher senden? —