1884, Briefe 479–567
521. An Franz Overbeck in Basel
<Sils-Maria, 23. Juli 1884>
Lieber Freund,
ich vergaß neulich, Dich zu bitten, dem Bibliotheks-Diener den betreffenden Wink zu geben: „Sils-Maria, Oberengadin“ genügt als Adresse. Insgleichen vergaß ich Dich zu fragen, wann Du wieder aus den Ferien nach Basel heimzukehren gedenkst, und wann demgemäß die nächste Pensions-rate für mich in Aussicht steht. Ich laborire nämlich an der Vorstellung, dies Mal nicht bis zu dem nächsten Termine auszureichen. Man hat mir in Val Piora und Zürich schrecklich viel Geld abgenommen. — Was ich überhaupt das „Reisen an sich“ verwünsche! Es erschöpft mich auf eine mir kaum verständliche Art. — Das Wetter war mir bisher zuwider, und ich bin noch ferne davon, mich erholt zu haben. Es gab Tage, die ich kaum zu überwinden wußte: meine Feinde, die Wolken —!
Andererseits giebt es Stunden wenigstens, wo ich, bei einem Rückblick über 40 Jahre, mich glücklich preise — freilich auch mit vielen „blauen Augen,“ aber eben doch hindurch gekommen zu sein. Die Consequenzen eines solchen Lebens kamen in den letzten Jahren zum „Ausbruch“ — eruptiv, in jeder Hinsicht, und beinahe zerstörend. Aber dies „beinahe“ ist meinem ganzen Leben an die Stirn geschrieben — zuletzt bin ich bis jetzt doch noch „der Siegreiche“.
Ich stecke mitten in meinen Problemen drin; meine Lehre, daß die Welt des Guten und Bösen nur eine scheinbare und perspektivische Welt ist, ist eine solche Neuerung, daß mir bisweilen dabei Hören und Sehen vergeht.
Aber Du wirst mitten in Deiner Arbeit sein und hast schon viel zu viel Zeit auf Deinen tollen Freund verwenden müssen — ich dachte oft daran, und mit Betrübniß. Es sollte Jemanden geben, der für mich, wie man sagt, „lebte“; da würde auch Dir, mein lieber Freund, Viel erspart sein.
Die Abende, wo ich ganz allein, im engen niedrigen Stübchen sitze, sind harte Bissen zum Kauen.
Dir und Deiner lieben Frau (der ich vergessen habe die mémoires der Herzogin von Abrantes zu empfehlen, zur Ergänzung der Remusat)
von Herzen zugethan
N.