1884, Briefe 479–567
491. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Nizza, 25. Februar 1884>
Lieber Freund, ich schrieb nicht, weil ich Etwas Bestimmtes Ihnen melden wollte und nicht dazu kam, mich zu „bestimmen“. Das Dumme ist nämlich, daß Venezia und Nizza klimatische Gegensätze sind — und daß mir Nizza unbeschreiblich wohlthut. Ich las eben wieder (Sigmund, Klimatische Kurorte p. 195) über Venedig „wie in Pau beobachtet man die herabstimmende, beruhigende, erschlaffende Einwirkung auf den Kreislauf, das gesammte Nervensystem usw.“ — das bedeutet aber für mich Kopfschmerz und Schwermuth. Nun habe ich jetzt so viel auf der Seele (ach, Freund, zuerst und vor Allem das Gefühl einer unbeschreiblich großen Verantwortlichkeit!!) daß ich keinen Fehler in klimatischer Beziehung machen darf. Wissen Sie, daß der Fehler des vorigen Winters (Santa Margherita mit seiner feuchten Luft) mir fast (sehr „fast!“); das Leben gekostet hat? — —
Auf der andern Seite dürste ich förmlich nach Ihrer Musik und nach guten Gesprächen mit Ihnen; oder auch nach gemeinsamem Schweigen. Denn — ich bin schweigsam geworden! Alle Dinge hängen zusammen, und ich fand nachgerade so Vieles, worüber ich nicht mehr sprechen mag: wo soll man da anfangen zu reden und aufhören zu schweigen! Musik ist bei weitem das Beste; ich möchte jetzt mehr als je Musiker sein. —
Ist es denn nicht möglich, uns einmal einen Winter an dieser Küste einzurichten? Oder könnten Sie den Sommer nach Sils-Maria kommen? Ihre letzten Briefe gaben keine weitere Auskunft über das Projekt mit Bologna für nächsten Herbst: es scheint mir nöthig, daß jetzt schon dafür Alles vorbereitet werden müßte. Gesetzt, Sie könnten mit einiger Sicherheit diese Aufführung für die bezeichnete Zeit bestimmen: so würde ich darauf hin vielleicht meine Sommer-Pläne verändern und etwa Vallombrosa bei Florenz zu meiner Sommer-Residenz auswählen.
Es fällt mir ein, daß ich neulich vergessen habe, Ihre Hülfe und Mit-Arbeit mir für den letzten Theil des Zarathustra abzubitten; und so mag vielleicht in diesen Tagen ein Correctur-Bogen ganz grob und ungezogen bei Ihnen zur Thür hinein gefallen sein. Seien Sie freundlich und helfen Sie mir dies Mal noch! — Ich ärgere mich so über Druckfehler und habe davon so viel stehen lassen (im 2ten Theile, auf den 3 ersten Bogen, deren Manuscript der große Taps Schmeitzner Ihnen vorenthalten hatte) Sandte ich Ihnen nicht schon Einiges von dieser Gattung? hier gleich noch zwei! Seite 8 Zeile 5 von Oben muß es heißen Zeuge- und Werdelust statt Zunge und Werdelust. — Seite 15 Zeile 12 von Oben muß es heißen Aber wen statt Aber wer. usw.
Nochmals: die regelmäßige Zusammenstellung Venedigs mit Pisa und Pau (auch Rom) in seiner Wirkung macht mich jetzt bedenklich; welche klimatischen Thorheiten habe ich nicht schon begangen! Und wie habe ich sie büßen müssen!
Seien Sie nicht böse, lieber Freund — mich selber macht es so ungeduldig, wieder zur Geduld verurtheilt zu sein!
Ihr getreuer Nietzsche