1884, Briefe 479–567
483. Vermutlich an Franz Overbeck in Basel (Entwurf)
<Nizza, Januar/Februar 1884>
Das Dümmste ist, daß ein grenzenlos absurder Brief meiner Schwester mich nöthigt, aus meiner allzu schonenden Zurückhaltung gegen sie herauszutreten.
Nebenbei gesagt, meine Schwester ist ein Unglückswurm: es ist ihr jetzt das sechste Mal in zwei Jahren passirt, daß sie mitten hinein in meine höchsten und seligsten Gefühle — Gefühle, wie sie auf der Erde überhaupt selten dagewesen sind — einen Brief hineingeworfen hat, der den niederträchtigsten Geruch des Allzumenschlichen hat.
Ich wunderte mich auch in Rom und Naumburg immer darüber, wie selten sie etwas sagt, was mir nicht wider den Strich ist.
Ich bin nach jedem Brief empört gewesen, über die schmutzig verleumderische Art, in der meine Schwester von Frl. Salomé redet. Es mag sich gegen das Mädchen einwenden lassen, was man will — und gewiß anderes als meine Schwester thut — aber dabei bleibt übrig, daß ich kein begabteres, nachdenkenderes Geschöpf gefunden habe. Und obwohl wir nie übereinstimmten, ebenso wie es zwischen Rée und mir stand, so waren wir doch beide nach jeder halben Stunde Zusammensein glücklich über die Menge, die wir dabei gelernt hatten. Und nicht umsonst habe ich in diesen letzten 12 Monaten meine höchste Leistung geleistet. Gewarnt waren wir hinreichend voreinander: und so wenig wir uns liebten, so wenig war es doch nöthig, daß wir einen für uns und alle Welt im höchsten Sinne nützlichen Verkehr aufgaben. Etwas Ähnliches gilt für meinen Verkehr mit Rée; ich weiß heute so gut wie vor sechs Jahren, wo seine Schwächen sind. — Aber er gehört als Denker in meine Entwicklung, und seine Bahnen sind in einem gewissen Sinne meine Erzeugnisse. Daß die Beiden sich gemein gegen mich benommen haben, ist wahr — aber ich hatte es ihnen vergeben, wie ich meiner Schwester schlimmeres Verhalten gegen mich vergeben hatte.
Meine Schwester, dreist gemacht durch die allzu bescheidne Gesellschaft Naumburgs und, wie schon gesagt, an die abscheulichste Litteratur gewöhnt, die es jetzt giebt — ist endlich auch verwöhnt durch meine Gutmüthigkeit und Schonung. Wie viel Briefe an sie habe ich verbrannt! Wie hundert Male habe ich gesagt: „sie kann nichts für ihre Art, laß sie laufen: eines Tages zeigt sie schon wieder ihre angenehmsten Seiten“.
Auf einen Brief wie den letzten Brief meiner Schwester gebührten sich von Rechts wegen eigentlich ein paar Ohrfeigen.