1884, Briefe 479–567
482. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Entwürfe)
<Nizza, Januar/Februar 1884>
Aber ein Jahr nachher auf Dinge zurückkommen, die vor meinem intimen Zusammensein mit Frl. Salomé in Tautenburg und Leipzig liegen, war eine Brutalität sonder Gleichen; und mir dann Brief für Brief Dinge mitzutheilen, die mir ganz neu waren, und nachträglich noch Schmutz auf jene aufopferungsreichen Monate zu werfen, das heiße ich niederträchtig. Wenn Frl. S<alomé> über mich geäußert hat, daß ich „unter der Maske idealer Ziele“ schmutzige Absichten in Bezug auf sie verfolgte“, durfte ich so Etwas ein Jahr nachher erfahren? Ich hätte sie mit Schimpf und Schande fortgejagt und Rée’s von ihr befreit. — Dies nur als Probe von hundert Fällen, worin sich die verhängnißvolle Perversität meiner Schwester gegen mich gezeigt hat. Im Übrigen weiß ich längst, daß sie nicht eher Ruhe hat, als bis ich todt bin. Nun, mein Zarathustra ist fertig! Im Augenblick, wo er fertig wurde und ich in meinen Hafen einfuhr, stand sie da und warf mir Hände voll Schmutz in’s Gesicht.
Es sind Andeutungen in Deinem Briefe, welche mich sprachlos machen.
Bin ich es nicht, der ein Übermaaß von unverdienter Güte Euch im letzten Jahr bewiesen hat? Seid Ihr denn undankbar durch und durch? Oder so in den letzten Grund hinein verlogen, daß die einfachste Wahrheit bei Euch auf dem Kopfe steht?
Wer hat sich denn schlecht gegen mich benommen, wenn nicht Ihr? Wer hat mein Leben in Gefahr gebracht, wenn nicht Ihr? Wer hat mich so vollständig in Stich gelassen, wie Ihr, und damals, wo ich Trost nöthig hatte, mir mit Verhöhnung und Beschmutzung meines ganzen Lebens und Strebens geantwortet?
Ich kenne erst recht, und von Kindheit an, die moralische Distanz, die mich und Euch trennt, und habe all meine Milde, Geduld und Stillschweigen nöthig gehabt, um Sie Euch nicht allzufühlbar zu machen. Begreift Ihr denn Nichts von dem Widerwillen, den ich zu überwinden habe, mit solchen Menschen, wie Ihr seid, so nahe verwandt zu sein! Was bringt mich denn zum Erbrechen, wenn ich Briefe meiner Schwester lese und diese Mischung von Blödsinn und Dreistigkeit, die sich gar noch moralisch aufputzt, hinunterschlucken muß?
Ich habe nun ein paar Jahre wie ein zu Tode gemartertes Thier gegen L<isbeth> mich gewehrt und geflüchtet; ich habe sie beschworen mich in Ruhe zu lassen und sie hat nicht einen Moment aufgehört, mich zu martern. Ich fürchtete mich, vorigen August deshalb nach N<aumburg> zu gehn, um nicht thätlich mich an ihr zu vergreifen, und berieth deshalb mit O<verbeck>. Und nun stellt sie sich hin und thut, als ob sie an nichts schuld sei!
Ich weiß nicht, was schlimmer ist, die grenzenlose dreiste Albernheit L<isbeth>s, einen Menschenkenner und Nierenprüfer wie mich über 2 Menschen belehren zu wollen, welche ich Zeit und Lust genug hatte, aus der nächsten Nähe zu studiren: oder die unverschämte Taktlosigkeit, Menschen unausgesetzt mit Schmutz vor mir zu bewerfen, mit denen ich doch jedenfalls ein wichtiges Theil meiner geistigen Entwicklung gemein habe und welche insofern mir 100 Male näher stehen als dieses alberne rachsüchtige Geschöpf.
Mein Ekel mit einer so erbärmlichen Creatur verwandt zu sein.
Woher hat sie diese ekelhafte Brutalität — woher jene verschmitzte Manier, giftig zu stechen <durch welche ihr Brief an Frau R<ée> mir unbeschreiblich wehe that, in die Seele von Frau R<ée> hinein)
Wenn ein Mensch wie ich sagt „der und der gehört in den Plan meines Lebens“ wie ich es L<isbeth> über Frl S<alomé> gesagt habe — so ist es eine blödsinnige Albernheit des Urtheils und des Willens zu schaden und sich an überlegenen Geistern zu rächen. Dann mir in einer so infamen Weise entgegen zu arbeiten. Zuletzt habe ich doch durchgesetzt, was ich wollte.
Die dumme Gans ging so weit, mir Neid auf R<ée> vorzuwerfen! und mich mit G<ersdorff> und sich mit M<alwida> zu vergleichen!
Du kannst mir nicht nachfühlen, welcher Trost mir jahrelang Dr R<ée> gewesen ist — faute de mieux wie es sich von selber versteht, und welche unglaubliche Wohlthat mir gar der Verkehr mit Frl S<alomé> gewesen ist.
Was den Brief L<isbeth>s anlangt — so beunruhigen mich Urtheile über mich selber nicht. Ich denke, ich habe dasselbe schon Ein Mal zu hören bekommen — war’s von L<isbeth>? Oder von Frl S<alomé>? Über mich wenigstens stimmten sie damals überein. Wer treibt denn darin doppel Spiel?
Glaube ja nicht, l<iebe> M<utter>, daß ich schlechter Laune bin. Im Gegentheil! Aber wer jetzt nicht zu mir hält, der laufe zum Teufel — oder meinetwegen nach P<araguay>.