1884, Briefe 479–567
554. An Franz Overbeck in Basel
Mentone, pension des Etrangers <13./14. November 1884>
Mein erstes Wort von hier an Dich, geliebter Freund — denn der Zufall belehrt mich eben, daß der sechszehnte November ganz in die Nähe gerückt ist (Zualledem bekam ich eben den von Dir umadressirten Brief des zudringlichen, von mir immerfort grundsätzlich ignorirten Herrn Kürschner aus Stuttgart — und hatte Vergnügen, Deine Schrift zu erkennen) Sieh zu, lieber alter Freund, was sich mit mir noch fernerhin machen läßt; zugegeben, daß es immer lästiger wird, mit mir zu verkehren, so weiß ich doch, daß, bei dem Gleichgewichte Deiner Natur, auch unsre Freundschaft auf ihren zwei Beinen stehen bleiben wird. Es thut mir gründlich weh, daß Du mich jetzt jahrelang immer nur in Zuständen von Krankheit und tiefer Erschöpfung gesehn hast — ach, jeder Schritt auf der Bahn meiner Aufgabe macht sich fürchterlich bezahlt, und jetzt, wo ich mein Leben mehr verstehe, scheint es mir, daß all mein körperliches Elend der letzten 12 Jahre unter den Begriff solcher Abzahlungen fällt) Die unausgesetzte schmerzliche Entbehrung an allem Nothdürftigen, Tröstlichen, Stärkenden, lange zusammengepreßt durch meinen üblichen Gedulds-Stoicismus, bricht von Zeit zu Zeit heraus, und zwar wie mir scheint, immer am stärksten nach einer neuen „Schwangerschaft“ und „Niederkunft“. So bin ich dieses ganze Jahr vom März an innerlich krank gewesen, abgerechnet die hellen Wochen in Zürich, welche den Charakter von Ferien und Festen für mich hatten (Dank den guten heiteren Menschen um mich: ihr Einfluß wiegt den von reinem Himmel bei mir auf, ad exemplum Malvida bei römischem scirocco.
Die Herreise, gefährlich und unerträglich aufregend für einen Drei-Viertels-Blinden, mußte zunächst mit einem bitterbösen 3 tägigen Anfalle bezahlt werden. Auch heute bin ich noch nicht in Ordnung, aber es geht aufwärts. Mentone ist, gegen Nizza gehalten, meiner würdiger, aber es scheint, daß äußere Gründe mich nöthigen könnten, trotzdem dorthin überzusiedeln. Einstweilen die angegebene Adresse.
Dir und Deiner lieben Frau treulich ergeben
N.